Das Leben hinter der Tür

von Stephanie Drees

9. Mai 2021. "Sie kaufen nicht nur eine Wohnung. Sie kaufen ein neues Leben. Schöner, heller, näher." Mit diesem Postskriptum schließt Gabrielė Labanauskaitės "Immobiliendrama". Es sind die letzten Sätze eines Stückes, das recht harmlos beginnt, nach und nach aber zur Odyssee wird, die ein blutiges Ende nimmt. Ist es ein Original-Werbezitat einer Immobilienfirma oder das Überzeugungsmantra einer Maklerin? In jedem Fall ist dieses "P.S." ein schwarzhumoriger Rausschmeißer, ein letztes böses Grinsen des Textes, bevor wir mit ihm und seiner Welt fertig sind. Und kurz zuvor noch einmal laut gelacht haben.

61 Gabriele LabanauskaiteDie Gewinnerin Gabrielė Labanauskaitė © Minika Penkute

Dieses "Immobiliendrama" (es laufen ja real weltweit einige davon) spielt in Litauen, dem Gastland des diesjährigen, digitalen Heidelberger Stückemarkts. In seiner Themensetzung strotzt das Gewinnerstück des internationalen Autorenwettbewerbs vor Aktualität: Es geht um den Traum der eigenen vier Wände, das Rauskommen aus dem Wahnsinns-Karussell von Wohnungssuche, Mieterdasein und (potenzieller) Verdrängung aus dem temporären Zuhause. Für Juste, die Protagonistin, spiegelt sich die Härte des Temporären in der Exposition des Stücks: Ihr Freund macht Schluss, man lebte bis dato zusammen und tut es sehr bald schon nicht mehr. Kurzerhand zersägt die junge Frau das gemeinsame Sofa – und für einen Moment glaubt man, in einer Boulevard-Komödie gelandet zu sein. Doch die Autorin und Literaturwissenschaftlerin Gabrielė Labanauskaitės bedient sich souverän aus der Klischee-Schublade der Unterhaltungsgenres. Sie lässt ihre Charaktere mit viel Lust auf dem Kipppunkt zur Abziehfigur tänzeln. Und überzeichnet die professionell-freundliche Grausamkeit der Bankberaterin beim Kreditgespräch und die entkräftete Lakonie einer hochverschuldeten 30qm-Wohnungseigentümerin mit feinen Strichen.

Im Verhältnis dazu kommt einem der eindrückliche Interpretations-Verweis der Autorin im Nachgespräch zur szenischen Lesung fast eindimensional vor: Die "Kapitalismuskritik" des Werks erwähnt sie gleich mehrfach. Klar, mit dieser Juste, nun lebendiger Spielball im entfesselten, zynischen Game der mächtigeren Player – sei es die Bank, sei es der miese Wohnungseigentümer – möchte man nicht tauschen. Doch Gabrielė Labanauskaitės Stück ist insofern schlauer als ein wohlfeiler Verweis auf "das System", als alle Figuren auch der Ökonomisierung ihrer Lebensbeziehungen Vorschub leisten. "Immobiliendrama" könnte, wie die Jury in ihrer Laudatio richtig schreibt, an vielen Orten dieser Welt spielen. Und passt damit in die Reihe der drei Stücke, die Kuratorin Giedrė Liugaitė ausgewählt hat. Interessanterweise verbindet die in Themensetzung und künstlerischer Form sehr unterschiedlichen Arbeiten dieses: eine innere Heimatlosigkeit von Menschen, eine große Verlorenheit, die sich auch im Wunsch zeigt, das Gegenüber am Küchentisch möge uns komplettieren, oder zumindest: die Krümel des zerbröselnden Ichs sortieren.

Es tut weh!

Die Verlorenheit des spätkapitalistischen Menschen im digital ausgekühlten Global Village? Auch diese Diagnose wäre freilich eindimensional und täte der Stückeauswahl Unrecht. Auch in "Identify" von Ieva Stundžytė suchen die acht Figuren vor allem nach einem Halt, zersplittert das Selbst in zerstörerischen Beziehungen, mehr oder weniger präsenten Traumata, die einige Figuren verbinden und deren Auswirkungen das Leben anderer prägen. Vordergründig durch Verwandtschaft, Freundschaft, Therapie, Sex oder gemeinsame Jugendzeit verbunden, reiben sie ihren Schmerz aneinander, stoßen wie Billardkugeln zusammen und verirren sich erneut. Ein Arzt, der nie über den Selbstmord seines Freundes hinweggekommen ist und mit eben jenem in Jugendtagen einen Missbrauch begangen hat. Der Klon dieses Freundes. Eine Studentin und Stalkerin, eine verlorene Liebeshungrige, ein indigener Mensch, selbst asexuell und lebendige Projektionsfläche. Eine Therapeutin, die Hilfe braucht, ihr sexbesessener, gewalttätiger Bruder. Und: ein Schriftsteller, der sich vielleicht all diese Figuren ausgedacht hat und uns die ganze Zeit an seinen Kopfgeburten teilhaben lässt.

Was klingt wie eine futuristisch-experimentelle Telenovela, entfaltet in Schlaglichtern, lose arrangierten Mono- und Dialogen, einen psychologischen Sog. "Identify" ist in seiner Konstruktion mit Abstand das sperrigste Stück der drei ausgewählten und am stärksten von postmoderner Textpuzzelei geprägt.
Seine Autorin Ieva Stundžytė ist künstlerisches Mitglied des "Open Circle" (“teatras atviras ratas“)-Theaterlaboratoriums in Vilnius, das dieses Jahr mit seiner Produktion Regenland per Stream ebenfalls auf dem Festival zu Gast war. Auch diese Produktion funktioniert als Kaleidoskop, basierend auf wahren Leben, geführt während der sowjetischen Besatzung Litauens, recherchiert in Gesprächen mit Verwandten der Theatermacher*innen. "Open Circle" steht für kollektive Arbeitsweisen und künstlerische Experimente. "Identify" ist offensichtlich davon geprägt – wirkt jedoch an einigen Stellen sprachlich überladen.

Das Trauma ist nie fern

Besonders in dieser Hinsicht stringent und klar: "Mütter und Söhne" des Autors Matas Vildžius. Das Gerüst des Stückes sieht von außen überschaubar aus: Eine Frau, ein Mann. Frisch geschieden. Der späte Abend nach der Beerdigung der Mutter des Mannes. Mal sprechen die beiden – vielleicht zum ersten Mal – über das Scheitern ihrer Beziehung, mal überlegen sie zu tanzen und tun es doch nicht. Der Mann will plötzlich ein Rollenspiel. Die Frau soll seine Mutter verkörpern.

Und, wie sollte es anders sein: Auch hier lauert das (unbearbeitete) Trauma, das dunkle Geheimnis. In diesem Falle hinter einer braunen Tür und viel Zigarettenrauch. Dieses Bild aus Kindheitstagen hat der Mann plötzlich wieder im Kopf. Alles riecht im wahrsten Sinne nach dunkler Familientragödie und tiefen Abgründen. Tatort-Figurenpsychologie? Dieser Text funktioniert zum Glück anders: Das Geheimnis ist die dritte, unsichtbare Figur im Stück. Sie schleicht wie eine Katze um die Beine von Mann und Frau und gibt sich nie richtig zu erkennen. Matas Vildžius hat ein Stück über (verhinderte) Kommunikation geschrieben.

Ingesamt lässt sich mit Blick auf dieses Jahr sagen: Drei starke Texte aus Litauen waren beim internationalen Autorenwettbewerb dabei. Sie hätten an vielen Orten auf dieser Welt spielen können. Vielleicht macht gerade das sie einzigartig.

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Stephanie Drees ist Redakteurin bei nachtkritik.de.

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