Gastspiel Teatras Atviras Ratas, Vilnius – Regenland / Lietaus Žemé
Lietus heißt Regen
von Katrin Ullmann
8. Mai 2021. Am Ende stehen sie wie zum Aufbruch bereit. Dann sind ihre Geschichten zu Ende erzählt, die Geschichten ihrer Familien, ihrer Vorfahren und ihrer Toten. "Povilas Žilys kehrte 1958 aus der Verbannung nach Litauen zurück und verließ das Land danach nie mehr" heißt es da, oder "Agripina Zariankina wurde 1947 im Schwerarbeitergefängnis von Kaunas hingerichtet." Es sind Geschichten von Litauer*innen aus der Zeit vor und während des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs und der anschließenden Okkupation durch die Sowjetunion.
Den Kreis öffnen
Alle Personen und deren Erzählungen basieren auf authentischen Lebensgeschichten von Großeltern, Eltern, Onkeln und Tanten der Schauspieler*innen. Sie haben diese gesammelt und aufgeschrieben, um sie in der Aufführung von "Regenland" zu den persönlichen Biografien ihrer Figuren zu machen. "Regenland“ so heißt die Arbeit ist eines der zwei (von ursprünglich fünf) aus Litauen eingeladenen Inszenierungen, die während des Heidelberger Stückemarkts zu sehen ist.
"Regenland“ ist einen Produktion des von Aidas Giniotis im Jahr 2006 gegründeten Theaterlabors Atviras Ratas in Vilnius. Eigene Stückentwicklung, die Interpretation und Erweiterung des historischen Gedächtnisses durch persönliche Erfahrungen, sind typisch für die Arbeitsweise an diesem Theater. Und um den Eindruck der Authentizität zu steigern, so kann man über die Aufführung nachlesen, haben die acht Schauspieler*innen jeweils die Freiheit, spontan zu improvisieren. Auf schwarzen Akkordeonkoffern sitzen sie im Kreis – ins Deutsche übersetzt bedeutet "Atviras ratas" "Kreis öffnen" – jeweils bevor oder nachdem sie in einer Szene mit agieren. Dafür springen sie etwa in die Erzählung eines Kollegen hinein, nehmen die Rollen der abwesenden Familienmitglieder ein, sind Mutter, Bruder, Vater, Kind, ähnlich einer raschen Familienaufstellung.
Wände voller Blut
In nur kurzen Szenen wird dann aus den jeweiligen Schicksalen erzählt, werden biografische Puzzleteile aneinander und nebeneinander gesetzt. Die übrigen Darsteller*innen sorgen indes für die entsprechend Atmosphäre, und ahmen Bienensummen und Vogelgezwitscher nach, um Wald, Freiheit und Sommerwiese auf die Bühne zu holen. Bei diesem Bühnenstück gibt es keine Ausstattung, hier ist alles pur, ist naturalistisches Spiel, ist alles Andeutung und Behauptung. Da sind die Akkordeonkoffer mal Kinderbettchen und mal Kirchtürme.
Es wird von enttäuschten Jugendlieben erzählt, von selbst gebauten Hütten im Wald, von Geständnissen, die im lauten Kirchenglockenläuten untergehen, von kommunistischen Aktivitäten, auf die Gefängnisstrafen folgen, von schwermütig-poetischen Briefen, von Partisanen und Kommunisten, von kalten Wintern in Bunkern und Lagern, von Totgeburten und Beerdigungen, von niedergemetzelten Familien und Wänden voller Blut. Von heimlich oder ungewollt Schwangeren, von Menschen mit weggedrückten Gefühlen, von Wasserleichen und falschen Gräbern, von der Verbannung und Enteignung. Für kurze (folkloristische) Tanzeinlagen wird Akkordeon gespielt – und wehmütig gesungen.
Groß und gültig
Die volkstümlichen Musikeinlagen, das naturalistische Spiel und die schlichten, in gedeckten Farben gehaltenen Kostüme, die auf die 1950er Jahre verweisen: All das macht diese Inszenierung seltsam gestrig. Und doch birgt der Abend – durch seine starken Texte und die konzentrierte Expressivität im Spiel – eine ganz eigene Faszination. Immer wieder streifen darin politische und historische Ereignisse die persönlichen Erzählungen, machen das Private groß und gültig. Dann scheint es nicht nur eine rein meteorologische Bedeutung zu haben, wenn "Litauen" (lietus=Regen) auch "Land des Regens" genannt wird.
von Aidas Giniotis und Ensemble
Uraufführung
Regie: Aidas Giniotis
Mit: Giedrius Kiela, Vytautas Leistrumas, Ieva Stundzyte, Jonas Sarkus, Justina Smieliauskaite, Justas Tertelis, Benita Vasauskaite, Judita Urnikyte
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
theaterheidelberg.de
atvirasratas.lt
Programm 2021
Theater Heidelberg
von Teresa Dopler
Regie: Ron Zimmering
Mit Nachgespräch
Theater Heidelberg
Deutschsprachiger Autor*innenwettbewerb Teil I
13:30 Uhr Einfache Leute
von Anna Gschnitzer
14:30 Uhr Gelbes Gold
von Fabienne Dür
15:30 Uhr Maria Magda
von Svenja Viola Bungarten
Anschließend Nachgespräche
Alle Lesungen danach on Demand verfügbar
Digitales Gastspiel
Wir haben getan, was wir konnten
von Tuğsal Moğul
Deutsches Schauspielhaus Hamburg
Anschließend Nachgespräch
Theater Heidelberg
Autor*innenwettbewerb Teil II
13:30 Uhr Fischer Fritz
von Raphaela Bardutzky
14:30 Uhr Hypnos
von Wilke Weermann
15:30 Uhr Peeling Oranges
von Patty Kim Hamilton
Anschließend Nachgespräche
Alle Lesungen danach on demand verfügbar
Theater Heidelberg
Harte Probe – 1001 Wege, sich die Krise schönzureden
Podiumsgespräch
Have a Good Day
von Vaiva Grainytė + Lina Lapelytė
Regie: Rugilė Bardzdžiukaitė
Operomanija, Vilnius
Anschließend Nachgespräch
Digitales Gastspiel
Erste Staffel. 20 Jahre großer Bruder
von Boris Nikitin
Staatstheater Nürnberg
Anschließend Nachgespräch
von Laura Naumnann
Regie: Sapir Heller
Münchner Volkstheater
von Lucien Haug
Regie: Suna Gürler
Zürcher Schauspielhaus
Anschließend Nachgespräch
Digitales Gastspiel
von und mit Julia Häusermann
Münchner Kammerspiele
Anschließend Nachgespräch
Theater Heidelberg
Autor*innenwettbewerb Gastland
13:30 Uhr Identify
von Leva Stundzyte
14:30 Uhr Mütter und Söhne
von Matas Vildžius
15:30 Uhr Immobiliendrama
von Gabriele Labanauskaite
Anschließend Nachgespräche
Live auf dringeblieben.de
Alle Lesungen danach on demand verfügbar
Regenland
von Aidas Giniotis und Ensemble
Regie: Aidas Giniotis
Teatras Atviras Ratas, Vilnius
Anschließend Nachgespräch
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