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Anna Gschnitzer - Einfache Leute
Ist uns allen schon vor unserer Geburt ein Platz in dieser Welt zugewiesen und durch die soziale Herkunft festgelegt? Inwieweit bestimmen die Verhältnisse, in die wir hineingeboren werden, unsere Zukunft? Das fragt sich auch Alex. Als Kind wurden ihr die Unterschiede von einem privilegierten Leben und dem ihrigen deutlich vor Augen geführt. Für sie schienen manche Ziele unerreichbar. Es blieb nur eins - mit aller Kraft aus diesem bescheidenen Milieu zu entfliehen und alles hinter sich zu lassen. Und es sieht ganz so aus, als hätte es funktioniert. Jetzt, zwanzig Jahre später, arbeitet sie als Kuratorin in einem Museum für zeitgenössische Kunst. Aber der Eindruck nicht dazuzugehören verschwindet einfach nicht – und die Sehnsucht danach auch nicht. Immer fühlt sie sich wie eine Hochstaplerin und nicht als Teil der sogenannten Elite. Die Herkunft nicht zu verleugnen und gleichzeitig den eignen Platz zu finden scheint unmöglich.
Anna Gschnitzer, geboren 1986 in Innsbruck, aufgewachsen in Südtirol. Sie studierte Vergleichende Literaturwissenschaft am Institut für Sprachkunst an der Universität für angewandte Kunst in Wien. Als Autorin, Dramaturgin und Regisseurin war sie an verschiedenen Performances, Theater- und Opernproduktionen beteiligt. Zuletzt arbeitete sie an den Münchner Kammerspielen und am Residenztheater München als Dramaturgin. Sie wurde mit zahlreichen Preisen und Stipendien ausgezeichnet, u.a. mit dem Jahresstipendium der LiterarMechana, dem Dramatik Stipendium der Stadt Wien und dem Publikumspreis des Münchner Förderpreises für deutschsprachige Dramatik. Sie lebt mit ihrem Mann und ihrer Tochter derzeit in München.
Zum Stückporträt: Einfache Leute
Autor*innen und Stücke
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Das Stückporträt: Einfache Leute – Anna Gschnitzer
von Martin Thomas Pesl
März 2021. Wer angesichts des visueller Poesie ähnelnden Schriftbildes zweifelt, dass es sich hier um ein Theaterstück handelt, wird rasch eines Besseren belehrt. Denn im Prolog ergreift ein resoluter Sprachchor namens "Die Platzanweiserinnen" das Wort und weist einen zurecht: "Das und nur das ist dein Platz / Wenn du lieber woanders sitzen würdest / Pech gehabt".
Schon vor zehn Jahren, als Anna Gschnitzer mit dem dramatischen Schreiben begann, experimentierte sie gerne mit der Metaebene. Vom Niederreißen der vierten Wand konnte da gar nicht erst die Rede sein, mit den ersten in Wiens Off-Szene aufgeführten Stücken brachen die Gedankenkaskaden nur so frontal über das Publikum hinein. Figuren oder Handlungen gab es keine. Auch ihr neues Stück "Einfache Leute" lässt sich nicht genau verorten. Da entsteht irgendwo in einem Museum eine Installation, "zimmergroße weiße Kapseln / die nichts von ihrem Innenleben preisgeben" und ein Text, "der in endlosen und komplizierten Sätzen / die Relevanz dieser Ausstellung unterstreicht / geschrieben in einer Sprache / die nur von anderen Kuratoren / verstanden wird“, aber immerhin: "wenn die Besucherinnen mutig genug sind / können sie in eine Kapsel steigen".
Und doch ist da mittlerweile mehr als nur der aktivistische Diskurs, der Spaß am Jonglieren mit dem Sprachspiel. Die 1986 geborene Tiroler Autorin präsentiert sogar eine Identifikationsfigur: Alex, einst in Toni verliebt, beide sind Frauen, die dem Rufnamen nach auch Männer sein könnten, umgeben von Eltern und männlichen Chefitäten. Die mit "Du" überschriebenen Texte sprechen gar nicht unbedingt (nur) die Zuschauer*innen an, auch Alex ist gemeint. In der ersten der 28 Szenen wird sie 40 Jahre alt, hat ihr Ich von vor 20 und mehr Jahren aber noch deutlich vor sich.
Heute arbeitet Alex für einen von vornherein unguten Vorgesetzten im schon erwähnten Museum moderner Kunst, damals lag sie neben Toni in ihrem alten Kinderzimmer und sprach über die Zukunft. Wenn es möglich wäre, würde Toni dann weggehen? "Klar. Du würdest gar nicht so schnell Scheißhaufen sagen können." Das ist dann schnell irgendwie persönlich genommen, eine Verletzung, die nie ausgesprochen immer noch nachwirkt, als zum Vierziger plötzlich eine Geburtstagskarte hineinflattert.
Zurück aus der Zukunft
Szenen von früher, die sich in die Gegenwart mischen, erwecken schnell den romantischen Wunsch, es müsse doch eigentlich doch noch was werden können mit den beiden. Die Autorin beschreibt die Technik einleitend wie folgt: "Jüngere und ältere Versionen derselben Figur treffen aufeinander und unterhalten sich wie in einem Traum oder so, als hätten sie den Mut, einander zu sagen, was sie fühlen. (...) Vergangenheit und Gegenwart bewegen sich aufeinander zu, vielleicht um einander zu entschlüsseln." So arbeitet, was anfangs noch eine typisch auf die Bühne gehobene essayistische Selbstanklage der Theaterblase an und für sich werden könnte, überraschend und fast schon altmodisch mit Figurenpsychologie.
Man begleitet die heutige Alex zu Treffen mit Männern, deren Verachtenswürdigkeit sie genüsslich auf den Punkt bringt: "Martin hat das Wort VERLETZLICHKEIT / zum Bestandteil seines täglichen Wortschatzes gemacht / um zu betonen / dass seine Männlichkeit ganz und gar nicht / toxisch ist." Die frühere Alex lässt sich indes nach der Trennung von Toni dann doch mit Johannes ein, dem Sohn der Ärztefamilie, bei der ihre Mutter den Haushalt macht.
Diese kleine Episode gibt einen Hinweis darauf, wo Gschnitzer die Inspiration für ihren Stücktitel herhaben könnte: "Einfache Leute" meint "Normale Menschen". Auch im so betitelten Buch der irischen Autorin Sally Rooney, der als Zeitgeistroman gefeiert und auch als Serienformat adaptiert wurde, begegnen sich zwei junge Menschen aus unterschiedlichen Schichten, weil die Mutter des einen beim anderen zu Hause putzt. Wo die Standesunterschiede bei Rooney zu einer komplexen und fruchtbaren Beziehung führen, an der beide Beteiligte wachsen, hat die Sache hier keine Chance, denn Johannes ist ein verwöhnter Schnösel.
Geschichte wiederholt sich
Natürlich wird auch Alex früher oder später in die geheimnisvollen Kapsel einsteigen, jene "soziale Plastik", die ihr Arbeitgeber, das Museum, organisiert: "Diese Ausstellung / konfrontiert uns / mit unseren eigenen Vorurteilen", erklärt der Chef. Mit dem Kunstwerk betritt Alex eine traumartige Version ihres eigenen Gehirns. Ob diese Konfrontation mit der Macht der Kunst unbewusst der Auslöser dafür ist, dass Alex es wieder mit Toni versucht, bleibt der Interpretation überlassen. Vordergründig begegnen die beiden Frauen einander rein zufällig wieder im Supermarkt. Aber was ist schon Zufall?
Zwar spielt Gschnitzer mit konkreten Figuren, doch wenn man versucht, sie zu greifen, flutschen sie einem im fluiden Wechsel zwischen den Zeitebenen aus den Händen. Sprache bleibt der Hauptfokus in ihrem Werk. Im Schriftbild sieht das so aus, dass linksbündige und rechtsbündige Zeilen, die oft einen Halbsatz oder nur ein einziges Wort enthalten, einander abwechseln. Bei der ersehnten Wiederbegegnung zwischen den jungen Liebenden am Höhe- und Endpunkt vereinigen sich Damals und Heute einer zentrierten Textsäule und liefern den ernüchternden Beweis, dass die Geschichte sich wiederholt und die Menschen immer die gleichen, man muss hier fast sagen: dieselben Fehler machen. Wie schon vor zwanzig Jahren kommt es zu exakt demselben Dialog, der dazu führt, dass es erst recht wieder nichts mit den beiden wird.
Für Regisseur*innen stellt "Einfache Leute" eine freudige Herausforderung dar: Das 18-zeilige Personenverzeichnis kann auf Vorschlag der Verfasserin auf vier Frauen* aufgeteilt werden, aber jede "Gruppe unterschiedlicher Menschen, die sich gemeinsam dieser Geschichte nähert", ist ihr recht. Als jelineksches "Machen Sie damit, was Sie wollen" sollte man das Fehlen räumlicher und zeitlicher Einordnung dennoch nicht betrachten: Gschnitzer hat ihre Worte genau gewählt und sich und uns somit eine ziemliche präzise Kapsel gebaut. Der Text perlt in pedantischer Musikalität dahin und könnte auch etwaigen Theaterkomponist*innen als Vorlage dienen.