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Wilke Weermann - Hypnos
Im Zugabteil, Rauschen. Und da ist diese Stimme, schlecht zu hören durch das Bordradio. "Bitte, wachen Sie auf." Immer wieder wird die Stimme, durch die Mitreisenden oder das Bordpersonal unterbrochen verschwimmt sie wie die Landschaft hinter den Fenstern. "Warum wollen sie dich davon abhalten, mehr zu erfahren? Warum halten sie dich davon ab, aufzuwachen?" Hypnos heißt die Stimme. Eine neue Technologie, welche mit im Koma liegenden Menschen kommunizieren kann. Seit Jahren liegt die Frau hier schon, dies ist die letzte Möglichkeit, sie zu erreichen, sie zurückzuholen. Der Text zeichnet ein atmosphärisches Bild des Graubereichs zwischen Leben und Tod. Gefangen in einem Zugabteil befindet sich die Komapatientin auf einer Fahrt zwischen Traum und Wirklichkeit. Wo wird die Reise hingehen?
Wilke Weermann wurde 1992 in Emden geboren. 2014 begann er sein Regiestudium an der Akademie für Darstellende Kunst Baden-Württemberg in Ludwigsburg. Im selben Jahr wurde sein erstes Drama "Abraum" für den Retzhofer Dramapreis nominiert, um dann 2016 mit dem Hauptpreis des Münchner Förderpreises für deutschsprachige Dramatik ausgezeichnet zu werden. 2019 erhielt er das Hans-Gratzer-Stipendium. Weermann ist ebenfalls tätig als Regisseur.
Autor*innen und Stücke
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Das Stückporträt: Hypnos – Wilke Weermann
von Christian Rakow
März 2021. Vexierbilder sind ein besonderer Rätselspaß. Betrachtet man sie auf die eine Weise, dann zeigen sie ganz klar gezeichnet einen … sagen wir … Hasen. Schaut man länger hin und erhält womöglich auch noch einen Betrachter-Hinweis, so wirken die Hasenohren bald wie ein Schnabel und man meint, eine Ente zu erblicken. Ludwig Wittgenstein hat dieses changierende Hase-und-Ente-Bild in seiner Philosophie prominent gemacht, als Beispiel für die Wissensgebundenheit der Gestaltwahrnehmung.
Mit Wilke Weermanns Text "Hypnos" verhält es sich ganz ähnlich wie mit diesen Vexierbildern. Er führt zwei Geschichten oder vielleicht auch eher zwei Perspektiven eng, die im Detail recht schwer auseinanderzuhalten sind: Da gibt es zum einen die Geschichte einer Frau, die seit zwanzig Jahren im Koma liegt. Man bemüht sich in der Klinik mit einer neuartigen Technologie – "Hypnos" genannt – an ihre verschütteten Bewusstseinsschichten zu gelangen. Aber es misslingt. Schließlich wird man ihr mit Einwilligung der Tochter die lebenserhaltenden Apparate abstellen.
In einer zweiten Handlungsdimension verfolgen wir ebendiese Tochter auf einer Zugfahrt zur Beerdigung, begleitet von offenbar vertrauten Menschen, die ihr wie Unbekannte erscheinen: "Sie sind nicht deine Freunde. Sie imitieren deine Freunde. Sie sind Fremde", heißt es. Alles zeigt sich in doppelter Beleuchtung: als vertraut und befremdlich, mithin als latent unheimlich.
"Hypnos" verschmilzt die beiden Geschichtsebenen, sodass man kaum sagen kann: Liest man nun von der Frau im Koma, die träumt, in einem Zug mit lauter Fremden/Freunden zu sein? Oder folgt man doch eher der Perspektive der Tochter, die wie in einem befremdenden Traumzustand dahindämmert? "Welche von beiden bist Du (oder)", heißt es gegen Ende entsprechend deutungsoffen.
In der Dämmerung
Im Auftakt des Stückes lauschen wir einer Hypnoseübung des Programms "Hypnos" mit wohltuend einlullenden autogenen Übungen ("Du konzentrierst dich vollkommen auf deinen Atem") und der entsprechend atmosphärischen Soundkulisse. Und ebendiese Klammer umfängt alle folgenden Situationen, umspinnt das Geschehen mit einer Dämmerlogik. Eine suggestive Erzähleranrede im "Du" führt durch den Text: "(was ist das) Wo bist du? (was ist das für ein lärm) Fenster vor und hinter dir." Sie rückt das Subjekt der Anrede (welches Du?) von Anbeginn ins Ungefähre; alles verschwimmt, wird vage.
Der Text sei im letzten Jahr als Hörspiel entworfen worden, erzählt Wilke Weermann beim Telefonat. Aber er ließe sich in seinen Augen auch für Theaterformen behaupten, die nicht unbedingt auf den traditionellen Bühnenraum ausgerichtet seien. Audiowalks zum Beispiel. Tatschlich bietet „Hypnos“ in seiner lyrischen Grundanlage, in der Reduktion äußerer Handlung, Futter für Kopftheater, auch für sphärische Bilder ewig gleichförmiger Bewegung. Zugfahrt ins Nirgendwo.
Weermann, 1992 in Emden geboren, hat sich seit Abschluss des Regiestudiums an der Akademie für Darstellende Kunst Baden-Württemberg in Ludwigsburg 2018 schnell einen Namen gemacht, war als Regisseur bereits zu den wichtigen Nachwuchsfestivals "Körber Studio Junge Regie" und "Radikal jung" eingeladen und mit seinem Dramendebüt "Abraum" 2015 für den Retzhofer Dramapreis nominiert. Romantische Motive wie auch Science-Fiction-Elemente tauchten wiederholt in seinen Arbeiten auf, Fragen nach dem unsicheren Status des Realen, nach künstlichen Menschen, Doppelgänger-Erscheinungen. Der surreale Flow von "Hypnos" passt hier gut rein.
An der Schwelle
Wie kleine Soundfiles lässt Weermann Alltagsszenerien im Zugabteil an die Wahrnehmungsschwelle vordringen. Die Beisitzenden unterhalten sich über Gesichtspflege oder nippen im Bordrestaurant am Tee und sprechen über die Klimakrise. "Die Wüste ist ein hungriges Land", heißt es. Und die "Borkenkäferplage" sei eigentlich eine "Menschenplage". Immer wieder verdichtet sich Weermanns dramatisches Langgedicht in solchen lakonischen Wendungen. Derweil rauscht das Bordradio, man kriegt keinen Sender rein, eine David-Lynch-Atmosphäre liegt über der Szenerie. Es ist das leise Knacken und Flackern des Unwirklichen, wie man es aus Filmen kennt, wenn Risse im Simulacrum, im künstlich gemachten Raum, auftauchen.
In einem herrlichen Dialog über das Lachen aus Konserven, das in der TV-Comedy als Witzindikator herhält, sagt eine der Begleiterinnen zur dämmernden Protagonistin: "Wusstest du, dass die meisten Lacher, die heutzutage eingespielt werden, in den Fünfzigern aufgenommen wurden? Das sind die Stimmen von Toten, mit denen wir unsere Comedy versüßen. Das ist doch krank, oder?" Das Bizarre und das Unheimliche liegen in "Hypnos" nahe beieinander, der Tod schaut beständig über die Schulter, und wird dann profan zurückgepfiffen: "Selbst der geschmackvollste Gag wird doch verdorben, wenn man das Lachen von Arschlöchern im Hintergrund hört."
Dabei gibt sich der Text an jeder Stelle technikaffin. Es sind die Medien, die die Zeit- und Realitätsebenen durchstoßen und verwirren. So wie die alte Tonkonserve die Wirklichkeit der Komödie durcheinanderbringt, so verrückt das Koma-Programm "Hypnos" mit seiner säuselnden Suggestion das Bewusstsein. "Du spürst diesen Körper im Raum, spürst sein Gewicht. Du fühlst die Stellen, an denen du den Planeten berührst", heißt es im Auftakt. Aber genau das passiert nicht. Körper und Geist berühren den Planeten gerade nicht mehr, sondern schweben gleichsam in unterschiedliche Sphären. "Du fühlst dich frei an Stellen, an denen du es nicht tust."
Dokument der Pandemie
Nicht von ungefähr hat die als "Du" angesprochene Heldin auf der äußeren Handlungsebene immer wieder Aussetzer, kollabiert im Bordrestaurant. Beim Gaming mit dem Spielgerät eines der Mitreisenden erlebt sie sich schließlich als Avatar. Die Szene heißt "Virtual Crossing" und spielt offenbar auf das Nintendo-Aufbauspiel "Animal Crossing" an: Man sammelt fossile Stoffe, baut an seiner Heimstatt – und kommt doch nicht substanziell vorwärts. Wie das Leben halt. "Und schon ist es passiert. Du hast die Figur vernichtet, die du war. Gelöscht."
Weermanns Stück ist im Corona-Jahr entstanden und es ist in seiner surrealen, unterschwellig finsteren, statischen Grundanlage durchaus ein Dokument dieser Zeit: mit all dem Koma, den medizinischen Apparaten, dem allgegenwärtigem Tod, dem galligen Humor, mit dem Ringen ums Alltägliche. Der Epilog des Textes nimmt sich düster aus. "(Ein schlechtes Jahr zum Leben. Ein noch Schlechteres zum Sterben.)" seht dort in einer geschlossenen Klammer. Aber man mag auch das Motto vom Beginn dagegenhalten: "Wir hatten dich da, wo wir dich haben wollten / Und dann hast du diese lächerliche Pose gemacht“ – ein Ausspruch der Schauspielerin Laura Eichten. Zwischen diesen beiden Polen geht’s hindurch: zwischen der pathetischen und der lächerlichen Pose, auf der Talfahrt im Bewusstseinsstrom.