Ein Publikum zu begeistern, ist die krasseste Regieleistung

Ein Gespräch mit Suna Gürler, Ulrike Leßmann und Annette Müller

April 2021. Wie erreicht man heute ein junges Publikum? Was bedeutet es, zeitgenössisches Jugendtheater zu machen. Darüber tauschen sich drei Theatermacherinnen mit Elena Philipp aus. Und über die Inszenierungen, mit denen sie oder ihre Theater 2021 für den Jugendstückepreis nominiert waren.

Suna Gürler, Ulrike Leßmann und Annette Müller, ist das Theater für junges Publikum eine Sparte im Aufwind?

Suna Gürler: Mit ist das Spartendenken fremd. Das hat mit meiner Biographie zu tun. Als Jugendliche habe ich am Jungen Theater Basel gespielt und von Anfang an Theaterprofis erlebt, die ganz selbstverständlich machten, was man Jugendtheater nennt. Ich bin mit dem Verständnis aufgewachsen, dass das Theater ist. Punkt. Als es Beruf wurde und ich selbst als Erwachsene kategorisiert wurde, habe ich gemerkt, dass das nicht selbstverständlich ist – es gibt ganz klare Schubladen.

Jenseits der Schubladen – was sind die Spezifika von Kinder- und Jugendtheater?

Suna Gürler: Im Bereich, den man Theater für junges Publikum nennen würde, gibt es ein sehr spezifisches Denken darüber, wer unser Publikum ist. Im erwachsenen Theater wird erstaunlich wenig darüber nachgedacht, für wen man eigentlich spielt. Dadurch reproduziert man eine Form von Theater für ein bestimmtes Publikum.

Fruhlings Erwachen 3 Zoe AubryFrühlings Erwachen: Lucian Haug und Suna Gürler haben Frank Wedekinds Skandalstück von 1891 in Berlin überschrieben. Statt die traurige Geschichte zu spielen und am Erwachen der Gefühle zu zerbrechen, sagen sie nun: Wir müssen reden. © Zoé Aubry

Am Schauspielhaus Zürich ist die Spartentrennung aufgehoben. Wie ist das Theater für junge Menschen in den Betrieb integriert?

Suna Gürler: Alle Repertoireproduktionen haben ein gleiches Anrecht auf die Mitarbeit von Requisite, Maske, Abenddienst, Dramaturgie, Audience Development – ohne dabei zu vergessen, dass es eine Expertise braucht, für ein gewisses Publikum zu arbeiten. Auch räumlich gibt es keine Trennung, von den Büros bis hin zu den Bühnen. Das Schauspielhaus Zürich wird als ein Ort gedacht, an dem diverse Formen von Theater zusammenkommen können.


Ulrike Leßmann: Ich kann vielem zustimmen, obwohl die strukturelle Grundbedingung hier am tjg. ganz anders ist – wir sind keine Sparte, sondern ein eigenständiges Kinder- und Jugendtheater. Der Unterschied im Theatermachen für junges und erwachsenes Publikum ist viel geringer als man gemeinhin annimmt. Wir arbeiten mit der gleichen Ernsthaftigkeit und dem gleichen Qualitätsanspruch an uns, und wir reklamieren für uns, in der gleichen Weise Kunst zu machen.

Und wie stehen Sie zur Aufwind-These?

Ulrike Leßmann: Wir haben 2016 ein neues Theaterhaus bekommen und sind vom Stadtrand ins Zentrum von Dresden gezogen. Unsere Arbeitsbedingungen und Produktionsstätten sind die eines mittelgroßen Stadttheaters – wir haben drei Bühnen und Probebühnen in Originalmaßen. Das ist etwas sehr Besonderes im Kinder- und Jugendtheater-Bereich. In der Szene ist es stark wahrgenommen worden, dass eine Stadt einem Kinder- und Jugendtheater einen millionenteuren Neubau finanziert. Und dieser neue Ort verändert die Resonanz von Leuten, die überlegen, mit uns zu arbeiten, und es verändert auch unsere Arbeitsweisen.

Annette Müller, Sie sind auch im zeitgenössischen Tanz aktiv. Wie empfinden Sie die Stellung des Kinder- und Jugendtheaters in der Darstellenden Kunst?

Annette Müller: Für mich hat der Aufwind viel mit Themen zu tun, die von der jungen Generation vorgegeben werden. Viele junge Menschen, denen ich begegne, leben vegan, gendern Sprache und involvieren sich. Ich habe festgestellt, dass uns die jungen Rezipient*innen oft längst überholt haben. Wir müssen ihnen zuhören. Wenn Lehrer*innen sagen, "unsere Schüler*innen sind so und so" oder "sie verstehen das nicht", bin ich schockiert, denn sie verstehen es immer. Das Kinder- und Jugendtheater ist im Aufwind, weil die junge Generation im Aufwind sein muss – noch viel mehr als die Jahre zuvor. Wenn wir jetzt nicht mit ihnen und für sie arbeiten und sie nicht auch wirklich alleine etwas machen lassen, sehe ich schwarz für die Zukunft.

Sie formulieren ein Ethos: ins Zwiegespräch gehen, den Zuschauer*innen nicht ein künstlerisches Produkt vorsetzen, sondern sich mit ihnen für sie engagieren – eine Form der (Selbst-)Ermächtigung im Austausch, Annette Müller. Wie ist das bei Ihnen, Suna Gürler und Ulrike Leßmann, was für ein Publikum stellen Sie sich vor?

Suna Gürler: Wenn wir von "jungem Publikum" sprechen, meinen wir eigentlich meistens etwas anderes: Schulklassen. Unfreiwilliges Publikum ohne Seherfahrung. Aber auch ein Querschnitt der Gesellschaft. Was eine große Chance ist: Wenn nur fünf von von ihnen sagen, das war nicht so schlecht, dann ist das der Jackpot. Aber egal in welcher Sparte: Wenn ein Abend erfahrenes und unerfahrenes Publikum begeistern kann, dann finde ich das die krasseste Regieleistung.

Was ändert sich ästhetisch, wenn Sie für ein nicht freiwillig anwesendes Publikum inszenieren?

Suna Gürler: Eigentlich nichts. Aber der Anfang ist entscheidend. Gehe ich davon aus, dass im Publikum eine Bereitschaft vorhanden ist zuzuschauen? Falls nicht, versuche ich, das Publikum mehr um den Finger zu wickeln, es abzuholen.

tjg movie star 13"Movie Star": Matthias Köhlers Inszenierung nach dem Roman von Raziel Reid erzählt die Geschichte eines queeren Jungen, der von seinen Mitschüler*innen gemobbt wird und in eine Traumwelt flieht.  © tjg.theater junge generation

Ulrike Leßmann: Da setzen bei uns die Erfahrung und unser Spezialist*innenwissen ein. Wenn 13-Jährige mit der Schulklasse kommen, spielt die soziale Situation eine andere Rolle als bei den 16-Jährigen. Theater für 2-Jährige ist anders als Theater für 6-Jährige. Daraus erwachsen keine Eins-zu-Eins-Handlungsanweisungen für die Kunst, aber das Wissen darum prägt die Art und Weise, wie wir auf unser Publikum zugehen. Wie ist die Atmosphäre, wer steht auf der Bühne, wie divers sind die Menschen, denen unser Publikum begegnet? Das alles beeinflusst bei jungen Menschen die Gestimmtheit und das Gefühl: Ist das mein Ort? Fühle ich mich hier mit meinen Interessen, mit meiner Lebenswelt repräsentiert?

Am Theater empfängt man die Zuschauer*innen als Gäste. Annette Müller, Sie sind mit einem Klassenzimmerstück in Heidelberg nominiert, mit "aufsuchendem Theater" – die Kunst geht an den Ort der Jugendlichen. Wie gestalten Sie in dieser Situation die Kontaktaufnahme?

Annette Müller: Wir nähern uns ganz vorsichtig. "Harder, Faster, Stronger" ist im weitesten Sinne untheatral, die Spieler sprechen den Text aus ihrer Mitte heraus, sie unterhalten sich und unterscheiden sich im Habitus hoffentlich nicht so sehr von den Schüler*innen. Ich behaupte keine andere Realität als die des Klassenzimmers – das hat mit den Gegebenheiten des Raums zu tun, mit dem Licht, mit der Zahl der anwesenden Schüler*innen. Als Schauspielerin schaue ich erst einmal ganz sensibel: Wie ist die Tagesform? Das ist die Königsklasse für Performer*innen, im Erwachsenen- und Jugendtheater – das Atmosphärische des Ereignisses aufzunehmen und nicht zu versuchen, allen vorneweg zu sein.

Wenn die Kunst darin besteht, sich der Gestimmtheit in der jeweiligen Klasse anzupassen, gibt es dafür Spielräume des Improvisatorischen? Können die Spieler die Dialoge spontan ändern? 

Annette Müller: Normalerweise gerne, aber in "Harder, Faster, Stronger" nicht, der Text ist sehr schmal und einfach, meist haben die Sätze nicht mehr als fünf Worte. Die Anpassung findet im Timing statt – durch Zeit, Lautstärke, Schnelligkeit von Bewegung, auch durch die 'Temperatur'. Wenn ich merke, das Publikum sitzt morgens entspannt in der Sonne und ist offen, kann ich viel feiner und poetischer spielen als wenn ich spüre, da ist eine große Unruhe, weil die Schüler*innen noch eine Klassenarbeit schreiben. Dann muss ich ein wenig anziehen, einen Akzent setzen, damit ich sie nicht verliere.

Können Sie sich damit in Verhältnis setzen, Suna Gürler?

Suna Gürler: Ja. Oft wird gesagt, wir wollen das Theater öffnen und anderes Publikum reinholen. Dann ist aber auch die Frage: Wer macht das Theater und warum sollte ich mich dafür interessieren, dass jemand in einer ganz anderen Bubble eine Geschichte erzählt? Dabei ist Alter nur eine Kategorie: Welche Körper stehen da, welche Sprache wird gesprochen, wer hat den Text geschrieben? Allgemein ist die Frage, wer erzählt wessen Geschichte? Es geht um Repräsentation. Deswegen arbeite ich gerne mit Jugendlichen in den Hauptrollen, so dass diejenigen, die später als Schulklasse von uns 'zwangsbespaßt' werden, sich wiedererkennen auf der Bühne.

Resonanz entsteht bei Ihnen, Suna Gürler, darüber, dass die Zuschauer*innen jemandem eine Geschichte abnehmen, weil es die ihre sein könnte. Bei Ihnen, Annette Müller, funktioniert der Dialog eher über die Spielweise, so dass es tendenziell egal ist, wer spielt und wer zusieht, verstehe ich das richtig?

Suna Gürler: Wichtig ist mir dabei, dass es kein Richtig oder Falsch gibt, sondern viele verschiedene Ansätze. Aber es gibt Effekte oder Gleichungen, bei denen man unter gewissen Vorzeichen schon vorher weiß, was hinter dem Gleichheitszeichen steht.

HarderFasterStronger 04"Harder Faster Stronger": Im Klassenzimmerstück von Annette Müller gehen die Schauspieler Jonas Breitstadt und Elias Popp der Frage nach: Was bedeutet es, sich ununterbrochen in einem Koordinatensystem aus Leistung, Wert und Belohnung zurechtfinden zu müssen? © Tobias Metz / LTT

Am Theater Junge Generation gibt es ein Ensemble erwachsener Profispieler*innen, Ulrike Leßmann. Wie denken Sie das Verhältnis von Spieler*innen und Zuschauer*innen?

Ulrike Leßmann: Es kommt auf die Konstellation an: auf den richtigen Stoff und eine denkbare Spielweise für ein bestimmtes Publikum. Mein Genuss an der Arbeit am tjg ist, dass so viel parallel geht und wir den vielen "Publikumsgruppen" mit 30 bis 40 Repertoireinszenierungen ästhetisch und thematisch eine große Vielfalt anbieten können. Vor der Premiere von “Movie Star“ – der Inszenierung, mit der wir nach Heidelberg eingeladen sind – spielten wir zum Beispiel “Whatever love means“, eine Produktionn, in der Jugendliche auf der Bühne Liebeskonzepte verhandeln. Auch in “Movie Star“ werden nicht-heteronormative Realitäten verhandelt, aber von erwachsenen Profispieler*innen auf der großen Bühne. Zum Teil hat das jugendliche Publikum beide Inszenierungen gesehen. Die Raumsituation in "Whatever love means" war ganz anders, die Zuschauer*innen waren viel dichter dran. “Movie Star“ hingegen hat eine große Theatralität und bewusst gesetzte Pathos-Momente. Hier beeindrucken die Größe und Opulenz der Bilder, für die man natürlich ein gewisses Handwerk braucht, spielerische Qualifikationen. Wenn wir dazu noch eine Inszenierung für die ganz Kleinen haben, in der wir abstrakt und eher auf der Schnittstelle zur Bildenden Kunst oder installativ arbeiten – dann empfinde ich die ganze Vielfalt und Breite von Kunstformen auch für das junge Publikum als möglich.

Annette Müller, am Hessischen Landestheater Marburg spielt das Ensemble für Zuschauer*innen jeden Alters, und auch in Zürich teilen sich alle Künstler*innen einen Ort, Suna Gürler. Was sind Ihre Erkenntnisse zur Verflechtung unterschiedlicher Publikumsgruppen?

Suna Gürler: Ich versuche, wann immer es geht, die Menschen zu mischen. Ich spreche übrigens immer von Jugendtheater, ich habe keine Expertise, was Theater für Kinder betrifft. Ich möchte vor allem nicht das erwachsene Publikum 'schützen' vor den jungen Leuten, das die Codes nicht kennt. Oft gibt es eine Prozentzahl an den großen Häusern: So und so viele Schulklassen dürfen in eine Vorstellung, auch, weil Schulklassen weniger Einnahmen bringen. Das möchte ich gerne aufmischen und stören.

Annette Müller: Es ist von Thema zu Thema, von Stück zu Stück unterschiedlich und schwer, das zu generalisieren. Aber ich würde zu 100 Prozent die Begegnung unterschreiben, wobei ich eine Komplizenschaft eher mit den Jüngeren einzugehen versuche. Die zwei Spieler in “Harder, Stronger, Faster“ haben große Fragen an die Gesellschaft der Erwachsenen. Es ist ein schwieriges Machtverhältnis zwischen denen, die das Theater machen, und denen, die es rezipieren. In meiner Idealwelt ist das eine demokratische Angelegenheit. Deswegen mag ich das Klassenzimmer, als Ort für eine Intervention und um Verhältnisse grundsätzlich in Frage zu stellen.

Ausgehend von dieser Kritik an den Machtverhältnissen allgemein gefragt: Sind die Strukturen an Kinder- und Jugendtheatern in Hinblick auf die Produktionsbedingungen andere als an Stadt- und Staatstheatern?

Ulrike Leßmann: Bei uns entspricht der Output dem von Erwachsenentheatern. Bei der Anzahl der Produktionen, die entstehen und betreut werden, habe ich nicht das Gefühl, dass es einen Unterschied macht.

Suna Gürler: Da sind wir uns einig, dass die Strukturen wie sie sind, massiv überarbeitet werden müssen. Ich würde sagen, dass die Stadttheater ihren Output radikal um die Hälfte reduzieren müssen, damit die Leute einigermaßen normal arbeiten können.

Ulrike Leßmann: Am tjg denken wir nicht einen Publikumskörper, sondern viele Altersgruppen, wir produzieren für ein stark segmentiertes Publikum. Wollten wir weniger produzieren, müssten wir entscheiden, für wen wir vielleicht zwei Jahre lang gar nichts produzieren.

Fruhlings Erwachen 1 Zoe Aubry"Frühlings Erwachen": Das Team aus jungen und erwachsenen Spieler*innen begibt sich in die Gefahrenzone von Scham, Neugierde, Experiment und Macht. © Zoé Aubry

Annette Müller: Wir haben, neben den ästhetischen Anforderungen, einen Bildungsauftrag. Man müsste die Strukturen mit viel mehr Geld ausbauen. Junge Teams versuchen viel mit Lohngleichheit, aber die Budgets sind immer noch so viel geringer. Wenn ich als Freie an Kinder- und Jugendtheatern arbeite, ist die Regiegage im Vergleich zum Abendspielplan geringer. Da müsste man politisch ansetzen.

Ulrike Leßmann: Gravierend betrifft das die Freie Szene. Natürlich haben auch wir nicht die gleichen künstlerischen Budgets zur Verfügung wie große Staatstheater, und die Vorstellung, dass Kunst für Kinder und Jugendliche für weniger Geld machbar sein soll, ist auch manchmal irritierend, aber ich würde mich in meiner Position da nicht ganz weit aus dem Fenster lehnen.

Jenseits der ausbaufähigen Arbeitsstrukturen – wie steht es denn um die Stoffe im Kinder- und Jugendtheater? Im Vergleich mit mancher Inszenierung im Erwachsenentheater, denke ich oft: Inhaltlich geht es hier ans Eingemachte. Wie in den nach Heidelberg eingeladenen Inszenierungen, die sich um Sexualität, Leistungsdruck und einen homophob motivierten Mord drehen.

Ulrike Leßmann: Zuerst braucht man ein originäres Interesse an einem Thema, an einer Sprache, einer Poetik. Jede*r Dramaturg*in und jede*r Künstler*in blickt von sich aus in die Welt, aber wir leben ja in einer gemeinsamen Welt, Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Durch das Teilen von Räumen und Erlebnissen gibt es Themen, die uns relevant erscheinen und die auch für die jungen Menschen relevant sind – intersektionale Fragen, Nachhaltigkeit, Genderfragen, Gerechtigkeit. Es kommt darauf an, wie man für ein bestimmtes Alter ein Thema zugänglich macht. Ich finde Multiperspektivität wichtig – dass man keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit erhebt und auf der Bühne nicht die Welt erklärt, sondern dass es eine Repräsentanz vieler Stimmen und vieler Aspekte von Welt gibt, eine Möglichkeitsform.

Annette Müller: Da stimme ich zu. Ich werde als Regisseurin oder Autorin für bestimmte Projekte angefragt. Man gibt mir ein Thema, ich schreibe ein Stück – das ist dann mein sehr persönlicher Blick als Autorin auf Stoffe. Ihr redet aus der Position von Leuten, die einen Spielplan machen, mit vielen diversen Stücken im Jahr. Das ist eine große variety von Themen, man muss auch auf Lehrpläne achten und seine Schnittstellen finden. Da ist man dann bei der Frage, die Suna aufgeworfen hat: Welches Theater mache ich wann für wen, wer hat welche Bedürfnisse?

tjg movie star 08"Movie Star": Die Inszenierung zeigt eine Spirale von Angst, Provokation und Gewalt. Sie verhandelt anhand des Themas Homophobie Fragen nach Sexualität, Genderidentität und vermeintlicher Normalität. © tjg.theater junge generation

 

Suna Gürler: Ich schließe mich dem auch an. Mir ist wichtig, nicht davon auszugehen, dass ich eine neutrale Instanz bin. Ich bin eine gewisse Person mit einer gewissen Biographie, ich gehöre gewissen Kategorien in der Gesellschaft an – und das bestimmt die Arbeit, die ich mache. Die Themen im Erwachsenen- und Jugendtheater sind die gleichen. Vielleicht geht es um die Blickwinkel oder um den Groove, welche Einfärbung eine Inszenierung hat.

Das Gegenteil eines seine Entstehungsbedingungen mitdenkenden Theater wäre eine Inszenierung, die den eigenen Ort neutral setzt, auf die Ästhetik fokussiert und von grundlegenden inhaltlichen Fragen absieht, statt herauszuarbeiten, warum man ein Thema mit keinen anderen als den gewählten Mitteln erzählen möchte. Im Erwachsenentheater sieht man solche Inszenierungen mitunter schon noch …

Suna Gürler: Ja, aber der Zeitgeist ist, dass ein Teil der Gesellschaft zurückgeworfen wird auf sich und bedenken muss, dass weiße Menschen nicht neutral sind und dass die eurozentrische Weltsicht eine spezifische Sicht ist – race, class, gender. Dieser Prozess passiert auch im Theater: Dass hinterfragt wird, wer erzählt wessen Geschichte? Ähnliche Fragen stelle ich mir auch in Bezug aufs Alter. Was kann ich als 34-Jährige einer 16-Jährigen erzählen? Ich bin in Berührung mit verschiedenen Altersklassen und kann nicht einfach in irgendeiner Stadt irgendein Stück für irgendeine Altersklasse machen, sondern ich baue die Strukturen drum herum, so wie in Zürich mit den Jugendclubs, für die ich verantwortlich bin. Die Frage ist: Wo sind die offenen Türen, wie kommen die jungen Menschen ins Haus? Wir machen Nachwuchsförderung, haben ein Theaterjahr, in dem fünf junge Leute mit uns mitlaufen, mitreden können, eigene Formate haben. Das hat alles einen Einfluss auf unsere Produktionen, sie arbeiten mit und verändern, was dabei herauskommt.

Ulrike Leßmann: Das ist der entscheidende Punkt, finde ich – Jugendliche in ihren ästhetischen Ideen und ihrem inhaltlichen Wollen als Kunstschaffende ernst zu nehmen. In unserer Theaterakademie können sie selbst auf der Bühne stehen, in der Reihe tjg. tak-ticker bewerben sie sich zum Beispiel mit Inszenierungskonzepten und können diese mit professioneller Begleitung durch Theaterpädagogik, Dramaturgie und Bühnenbildner*in umsetzen. Bei uns sind die Jugendlichen im Haus präsent, man spürt sie und manchmal sind sie uns drei Schritte voraus. Sie nehmen Einfluss, zum Beispiel im Kinderbeirat, den wir gerade gründen. Das prägt ein Haus, einen Geist – das tjg. ist durchdrungen von Jugendlichen, die an verschiedenen Stellen wirksam werden, auch wenn sie nicht immer direkt mit auf der Bühne stehen.

HarderFasterStronger 01"Harder Faster Stronger": Erschöpft vom Leistungsanspruch der Gesellschaft: Elias Popp und Jonas Breitstadt © Tobias Metz / LTT

Das klingt für mich alles sehr nach Aufwind – aber auch sehr einig: Bei uns sitzen die wirklichen Teamplayer*innen, über die Genieästhetik sind wir hinweg … Ist das Kinder- und Jugendtheater ein vorbildhafter Bereich?

Suna Gürler: Das würde ich nicht so generell sagen. Es kommt auf das Interesse an: Was ist die Motivation, Theater zu machen? Sind Statussymbole wichtig? Falls ja, dann machst Du kein Kinder- und Jugendtheater. Vielleicht sammeln sich deshalb ein wenig andere Charaktere in dem Arbeitsbereich, aber ich möchte nicht zu sehr verallgemeinern.

Ulrike Leßmann: Ich kann sagen, dass bei uns am Haus Theatermachen mit Teamplaying besser funktioniert. Verschränktes Arbeiten, gemeinsames Denken. Es kommen meistens die interessanteren Inszenierungen dabei heraus, um es mal ausgehend vom Ergebnis zu beschreiben und nicht nur vom Prozess. Ich glaube, auch Schauspieler*innen, die solche Arbeitsprozesse wollen, fühlen sich bei uns wohler. Vielleicht, weil auf der Bühne das Spotlight auf die Genialität des Einzelnen nicht so hell ist, sondern es stark um Themen, Ästhetiken, die Atmosphäre und vor allem den Dialog mit dem Publikum geht.

Annette Müller: Es sind gerade sehr interessante Zeiten, und alle Jugendlichen, mit denen ich in Kontakt bin, haben ein Gespür dafür. Sie müssen sich ganz neu positionieren, sie wollen weitermachen, auch mal etwas anders machen, wie jede junge Generation es für sich beansprucht, aber ich glaube, sie haben eine wirklich große Verantwortung, derer sie sich bewusst sind – und ich habe oft das Bedürfnis, sie darin zu bestärken. Das hat mit Hoffnung zu tun.


Das Gespräch führte Elena Philipp.

 

Termine
Gastspiel: Frühlings Erwachen, 6. Mai, 18:30 Uhr auf dringeblieben.de.

 

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Suna Gurler Ensemble Zuerich c Blommers SchummSuna Gürler ist Regisseurin, Schauspielerin und Theaterpädagogin. Am Schauspielhaus Zürich gehört sie als Hausregisseurin, Co-Leiterin Theaterpädagogik und Leiterin der Jugendclubs zum erweiterten Direktorium. Für die nahe Zukunft wünscht sie sich, dass alle im Theater aktiv Antidiskriminierungsarbeit leisten, sich über Ausschlussmechanismen bewusst werden und ihnen entgegenwirken. Ihre Inszenierung Frühlings Erwachen ist eine Klassiker-Überschreibung zu den Themen Jugend und Sex und gewann den diesjährigen Jugendstückepreis des Heidelberger Stückemarkts.

tjg ulrike lemann 02 Marco PrillUlrike Leßmann ist Chefdramaturgin am Theater Junge Generation Dresden. Für den Jugendstückepreis nominiert ist das tjg. mit der Romanadaption Movie Star (Regie: Matthias Köhler) über den Mord an einem homosexuellen Schüler. Für Leßmann besteht eine Verantwortung des Kinder- und Jugendtheaters darin, öffentlich für die Interessen junger Menschen einzutreten und den Blick auf Normalität zu ergänzen: zum Blick auf Normalitäten. Den Möglichkeitsraum Bühne spürt sie bei Vorstellungen manchmal körperlich: das im Durchspielen des Vorstellbaren liegende Potenzial für Protest und Trost.

Mueller Annette c Hessisches Landestheater MarburgAnnette Müller ist Regisseurin, Performancekünstlerin und ausgebildete Schauspielerin. 2010 bis 2018 leitete sie gemeinsam mit Oda Zuschneid das Junge Theater am Hessischen Landestheater Marburg. Ihr Klassenzimmerstück Harder, Faster, Stronger vom Jungen LTT des Landestheaters Tübingen dreht sich um Leistungsdruck. Sie wünscht sich, dass die Theater nach Corona nicht wund gespart werden, "damit wir uns wieder treffen können und uns wieder mehr verkörpern dürfen ... und unsere Kinder bitte auch". 

 

Termin: Süna Gürlers Inszenierung Frühlings Erwachen, die 2021 den Jugendstückepreis gewann, wird am 6.5 um 18:30 Uhr live aus dem Zürcher Schauspielhaus gestreamt. Tickets und Link via dringeblieben.de

Hier die Kritik des digitalen Gastspiels.

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