Erfolgsfassade im Sturm

von Sabine Leucht

30. April 2021. "Alles wird in Ordnung sein, wir werden sehr beschäftigt sein und es wird uns gut gehen, es wird keinen Grund geben, uns nach irgendetwas zu sehnen." Was in unseren pandemiemüden Zeiten wie ein Mantra klingt, das sich verzweifelt an die Hoffnung auf Zukunft klammert, ist für Ivan und Ruth ein Bannspruch gegen das Aufwallen von Gefühlen.

Einer von vielen. Denn die Funktionslogik, nach der die beiden Schönen und Rundum-Erfolgreichen ihr Leben zurichten, sieht etwas derart Unkalkulierbares nicht vor, dafür berufliche Herausforderungen satt, vorzeigbare Lebensabschnittspartner, reibungslose Abläufe und ein ganz schlechtes Gedächtnis.

Zwischen gestern und morgen

"Keine Zeit für Sehnsucht" heißt es einmal in Teresa Doplers Stück "Das weiße Dorf", mit dem die 1990 in Linz geborene Dramatikerin 2019 den Autor*innenpreis des Heidelberger Stückemarkts gewonnen hat. Und dass Vergessen gut und wichtig sei, heißt es darin sehr oft. Vergessen war und ist das Schmiermittel für die Selbstoptimierung der beiden, die offenbar einmal schwer ineinander verliebt waren, bis Karriereentscheidungen zwischen sie kamen und sie "darüber hinweg". Jahre später lässt Teresa Dopler sie sich bei einer Amazonas-Kreuzfahrt zufällig wiedertreffen.

Dorf HP Presse SusanneReichardt 01Zufällige Wiederbegegnung auf dem Amazonas: Friedrich Witte (Ivan) und Katharina Ley (Ruth) © Susanne Reichardt

Das ganze Stück spielt an der Reling, an der Schwelle zwischen Schiff und Wasser, gestern und morgen, Um- und Innenwelt. Das ganze Drama findet zwischen diesen zwei Menschen statt, denen auf dieser Schwelle wunderschöne Sätze entfahren wie "kurz konnte ich nicht atmen" oder "neben keiner anderen Person stehe ich so gerne wie neben dir". Doch sehr viel öfter in diesen 35 kurzen, sich gegen Ende ziehenden Szenen versichern sie sich ihrer enormen Großartigkeit, bauen auf Konsens und werden einander zu Spiegeln. "Mir geht es genauso", "du hast recht" und Variationen davon gehören zu den wiederkehrenden Wendungen im Stück. "(Lacht)" ist die einzige Regieanweisung.

Voyeuristische Lust

Doch auf der Bühne des Zwinger 1, von der die Eröffnungsproduktion des Stückemarkts live gestreamt wird, bleibt Lachen Mangelware. Auf einer von sechs Strahlern beschienenen quadratischen Spielfläche stehen sich Katharina Ley als Ruth und Friedrich Witte als Ivan gegenüber, vor ihnen keine Reling, zwischen ihnen sehr viel Abstand, zwischen ihren Worten manchmal zu wenig. Vor allem Wittes Repliken kommen oft wie aus der Pistole geschossen, als wollten sie jedem möglichen inneren oder äußeren Impuls zuvorkommen. Man versteht, dass er wohl der Verletztere, Bedürftigere der beiden war und ist, aber die Spannung des Was-Wäre-Gewesen-Wenn spürt man vor allem in den leiseren Momenten. Wenn sich die beiden einfach nur anschauen. Oder wenn Ley von dem namenlosen Sehnsuchtsdorf in Spanien erzählt, das sie mit dem Blick einer Liebenden beschreibt: als nichts Besonderes, aber vollkommen. Da träumen sie sich kurz zusammen hin. Und etwas länger bohren sie mit fast inquisitorischen Fragen in der Intimsphäre des jeweils anderen herum.

Die voyeuristische Lust, die darin steckt, zeigen Ley und Witte sehr schön, gerade den Schlüsselszenen aber hätte mehr Leichtigkeit gutgetan: dieses perlende Gesellschaftslachen, das man beim Lesen des Stückes im Ohr hat und das so garnicht passen mag zu Ivans Erzählung vom dem Fisch, den er mit einem Tritt auf den Kopf töten musste, weil er sich nicht festhalten ließ - oder zu Ruths Bericht von den Ziegelsteinen, die Eingeborene ans Ufer werfen, ohne sich dafür zu interessieren, wie viele dabei zerbrechen. Doch gerade der Kontrast zwischen dem Lachen und diesen Geschichten täte ja so weh! Zimmering aber dimmt den Schmerz eher herunter und lässt die Schauspieler in nervös-drängendem Tonfall über ihn - aber auch über manch bedeutungsschwangeres Bild - hinwegsprechen.

Dorf HP Presse SusanneReichardt 29Gedimmter Schmerz: Katharina Ley (Ruth) und Friedrich Witte (Ivan) © Susanne Reichardt

Auch die coole Fassade der Figuren würde dadurch rissig, wäre sie überhaupt erst szenisch etabliert worden. Doch (Bühnen- und) Kostümbildnerin Ute Radler hat das Karriere-Nicht-Paar in erstaunlich casual wirkende Kostüme gesteckt. Er trägt ein lockeres weißes T-Shirt unter einem rosa Leinenanzug, sie ein Carmen-Top über einer weiten mittelblauen Hose. Beide Outfits haben in den Cuts zwischen den Szenen Gelegenheit, weiter zu zerknittern, in denen zu Jazzmusik Korken knallen und Hüllen fallen, Möglichkeiten aufscheinen und Träume, zu denen die Protagonisten on-scene nicht mehr die Kraft aufbringen. Wenn sich Ivan und Ruth dort aufeinander zubewegen, sich hinsetzen oder -legen, gerät die instabile rostfarbene Spielfläche ins Wanken. Größere Bewegungen bedeuten Gefahr.

Zurückgehaltene Angst

Nicht von ungefähr haben Regisseur wie Autorin in der Diskussion nach der Vorstellung an Beckett erinnert. Die Laudatio beim Stückemarkt 2019 zog den Vergleich mit Tschechow heran, mit dessen Figuren Doplers Paar das eingefleischte Unvermögen, sich zu ändern, aber auch die Sehnsucht teilt. "Nach Spanien!" rufen die beiden zwar nicht wortwörtlich, aber nach überwältigenden Erfahrungen, unvernünftigen Entscheidungen und einem alles andere als gemäßigten Gefühlsklima rufen sie schon. Und am Ende lassen Stück wie Inszenierung offen, welche Angst sie zurückhält: dass die Drei- Wetter-Taft-gestählte Erfolgsmenschenfassade den Stürmen nicht standhalten kann – oder die Realität nicht der Phantasie.

Zurück zur Übersicht

Das weiße Dorf 
von Teresa Dopler 
Regie: Ron Zimmering, Bühne und Kostüme: Ute Radler, Dramaturgie: Maria Schneider, Michael Letmathe 
Mit Katharina Ley, Friedrich Witte 
Online-Premiere am 30. April 2021 
Dauer: 1 Stunde 10 Minuten, keine Pause 

www.theaterheidelberg.de
 

Kommentar schreiben

Sicherheitscode
Aktualisieren