Im Safe-Space der Homecoming-Queens

von André Mumot

9. Mai 2021. Schon bevor es richtig losgeht, spricht der Text seine Warnung aus: "Denn ich bin all das, was Sie befürchten." Was folgt in Svenja Viola Bungartens "Maria Magda", ist ebenso atemberaubend wie die Entscheidung der Jury, ausgerechnet diesem Stück den deutschsprachigen Autor*innenpreis zu verleihen. Will man es angemessen beschreiben, muss man Adjektive türmen. Furios ist es, anmaßend, brillant und irritierend, nervtötend, großtuerisch, böse und banal, eine rücksichtlose religionskritische Phantasmagorie.

Surreale Spatter-Blasphemie

Svenja Viola Bungarten, derzeit Hausautorin in Koblenz, führt mehrere junge Mädchen in einer abgelegenen katholischen Klosterschule zusammen, umspukt sie mit gängigen Horrorgenre-Motiven und konfrontiert sie mit einer Gegengeschichte der Hexenverfolgung: Erzählt wird von Nonnen, die männliche Hexenmeister gejagt und getötet haben. Eine derartig unverschämte weibliche Selbstermächtigung ruft schließlich Gott persönlich auf den Plan, der einiges klarstellen möchte: "Maria, du kleine Bitch. Weil ich ein Gott bin, werde ich dich vergewaltigen. (…) Du wirst schwanger werden und einen Sohn mit einem gekrönten Kopf aus der Fotze pressen. Dieser Sohn wird die Menschheit in mein Reich führen. Das Reich der Väter, der Männer und der weißen Vorherrschaft."

BungartenFilmstill aus dem Videoporträt zu Svenja Viola Bungartens Stück "Maria Magda".

Spätestens hier ist das von der Fachjury erkorene Siegerstück zum pamphletischen, surrealen Krawall geworden, dessen kraftmeiernde Splatter-Blasphemie gut zur Adoleszenz der Hauptfiguren passt. Mit derart anti-naturalistischen Furor hebt sich "Maria Magda" zudem überdeutlich von den anderen Finalisten ab und hat wohl auch deshalb die Jury überzeugt. Denn vor allem eins überrascht – die thematische Nähe der anderen fünf Stücke.

Der Geist von Frida Kahlo

Ein dezidiert privatistisches "Zurück zu den Wurzeln" hängt über dem diesjährigen Stückewettbewerb: In "Peeling Oranges" zum Beispiel, für das Patty Kim Hamilton den SWR2-Hörspielpreis erhält. Die Autorin, die gerade ihr Studium des Szenischen Schreibens an der Berliner UdK abschließt, erzählt von drei aus Korea stammenden Frauen, einer Mutter und ihren zwei Töchtern, die glücklos in den Vereinigten Staaten leben. Dass hier Nicht-Weiße sprechen und sich mit ihren spezifischen Konflikterfahrungen auseinandersetzen, gibt dem Stück seine besondere Stellung, auch seine ganz eigene inhaltliche Qualität. Und holt, wie schon bei der eindrücklichen Stückemarkt-Lesung, ein Ensemble aus Schauspieler*innen an die Rampe, beziehungsweise ans Mikrofon, die in Ensembles viel zu oft marginalisiert werden.

Dass dann auch noch der Geist von Frida Kahlo auftritt, um weitere queerfeministische Bezugspunkte aufzumachen, ist nicht originell, etwas plump sogar. Dennoch zeigt sich Patty Kim Hamiltons Text als der sinnlichste, sensibelste, innerlichste des Wettbewerbs, als ein Gewebe aus Texturen und Geschmackserinnerungen, von Gerüchen und Traumata, hingehaucht in leicht prätentiösen Uneigentlichkeiten: "Vielleicht hören wir Hyperventilieren. Vielleicht hören wir Tränen." Kimchi wird zubereitet, Orangen werden geschält, und die postmigrantische Gegenwart erscheint in ihrer Traurigkeit kaum auszuhalten.

HamiltonFilmstill aus dem Videoporträt zu Patty Kim Hamiltons Stück "Peeling Oranges".

In "Peeling Oranges" kehrt eine Tochter zurück aus der großen Stadt in die Provinz und muss den Abstand zwischen sich und ihrer Kindheit akzeptieren. Exakt dasselbe passiert in Anna Gschnitzers "Einfache Leute", in der es eine im urbanen Kulturbetrieb arbeitende Frau zurück ins mitteldeutsche, nicht akademische Milieu ihrer Familie verschlägt. Bei der Online-Abstimmung hat dieses Stück die meisten Stimmen auf sich vereint und erhält damit den Publikumspreis. Womöglich, weil es gekonnt zwischen Kindheitshoffnungen und erwachsener Desillusionierung hin- und herspringt. Oder weil es sich schon im Prolog so (über-)deutlich in den Diskursen der Gegenwart verankert und damit leider nicht nur darauf vertraut, seine Erkenntnisse über die Konfrontationen der Figuren herzustellen: "Ja/ plötzlich bestimmen die Pigmente/ an deiner Hautoberfläche/ in Kombination mit/ dem durch Ausformulierung/ ausgeformten Geschlecht/ hier ganz offensichtlich die Sitzordnung."

Nebel aus Apltraumdialogen

Damit ist die Heimkehrthematik des Stückemarkts jedoch keineswegs abgeschlossen. Auch in "Gelbes Gold – von Fabienne Dür undidaktisch und lebensprall erzählt – kehrt eine junge Frau aus der Großstadt an den Heimatort der Kindheit zurück, wo der Vater eine vor dem Abriss stehende Pommesbude betreibt. In "Fischer Fritz" von Raphaela Bardutzky sieht sich der in der Großstadt als Friseur arbeitende Sohn eines Flussfischers gezwungen, seinen schwer kranken Vater im heimatlichen Dorf zu versorgen – was dann allerdings doch eine weibliche Pflegekraft aus Polen übernehmen muss. Die Hauptfigur in Wilke Weermanns gestochen scharf formuliertem, kühl experimentellem Text "Hypnos" schließlich liegt im Koma, und ihre Tochter, die sich entscheiden muss, ob sie die Geräte abschalten soll, dringt nur durch einen Nebel aus Alptraumdialogen zu uns heran – familiäre Verankerung als ein letzter Wahrnehmungsfetzen.

Es zeigt sich: Im Corona-Jahr 2021 wird beim Stückemarkt immer wieder in kritischer Melancholie der heimische Provinz-Herd poliert, bis man sich ausgiebig selbst darin bespiegeln kann. Ist es das Heidelberger Theater, das sich bei seiner Vorauswahl so sehr begeistern konnte für Coming-Home-Geschichten? Oder zeigt sich hier die Scheu zeitgenössischer Theaterautor*innen, sich auch das Fremde anzuverwandeln, sich erzählend und Dialoge schaffend in andere Milieus, Themen, Geschichten, Identitäten hineinzuschreiben? Steht dahinter die Angst vor dem Vorwurf, man würde sich die Lebenswirklichkeiten anderer zunutze machen, auf die man selbst keinen Anspruch erheben darf?

GschnitzerFilmstill aus dem Videoporträt zu Anna Schnitzers Stück "Einfach Leute".

Die Tendenz mag irritieren, den einzelnen Texten aber, auch den nicht ausgezeichneten, möchte man es nicht zum Vorwurf machen. Schließlich erzählt "Gelbes Gold" eine schlichte, schöne Geschichte auf schlichte, schöne Weise, benötigt "Fischers Fritz" keinen selbstgerechten Diskursanschluss, um mit leiser Ironie Welthaltigkeit zu erschaffen, und zeigt sich "Hypnos" in seiner verstörenden sprachlichen Klarheit als der formal stärkste Text des Wettbewerbs.

Aber es stimmt natürlich: "Maria Magda" stellt die größte Herausforderung dieses Jahrgangs dar, auch weil sich das Stück eben nicht einkuschelt im familiären Safespace der autobiographischen Selbstbefragung. Es ist, das steht schon fest, eine Spielvorlage, die Regisseur*innen; Ensembles und Publikum das Fürchten lehren wird – als unbescheiden wilde Zumutung, als abenteuerliches Bühnenerlebnis, das sich keinerlei Grenzen auferlegt. Aber niemand kann behaupten, das Stück hätte uns nicht gewarnt.

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André Mumot ist promovierter Kulturwissenschaftler, Autor und Literaturübersetzer. Darüber hinaus arbeitet er als Kritiker, Redakteur und Moderator im Deutschlandfunk Kultur, wo er regelmäßig das Theatermagazin "Rang 1" moderiert.


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