Erstes Date auf eBay

von Esther Boldt

9. Mai 2021. "Sich umzubringen wegen einem Girl? Ist das noch zeitgemäß?", fragt Willi in die Kamera, mit schief gelegtem Kopf und Struwwelhaar. Gute Frage! Sein bester Freund Werther wird es nach anderthalb Stunden Netztheater, whatsapp-Chats, Facebook-Nachrichten, Skype- und Zoom-Calls jedenfalls tun. Die Liebe war einfach zu groß. Die Liebe?

Eigens eingerichtete Kanäle

"werther.live" von Cosmea Spelleken hatte im November 2020 Premiere, wurde mit dem "Deutschen Multimediapreis" ausgezeichnet, zum virtuellen Theatertreffen von nachtkritik.de eingeladen und nun zum Netzmarkt des Heidelberger Stückemarktes. Ein Überraschungserfolg. Entstanden, wie die Regisseurin nach der Aufführung erzählt, als Lockdown-Stück, aus Enttäuschung davon, wie die Stadt- und Staatstheater auf die Pandemie reagierten – mit abgefilmtem Theater, das weder den Live-Moment schuf noch die Intimität eines Filmes.

Darum also: Der Briefroman als Social-Media-Theater, und Zuschauer:innen, die Teil der Vorstellung werden können – indem sie sich auf das Spiel einlassen, und auf den eigens eingerichteten Kanälen mit Werther, Willi und Lotte kommunizieren. Klara Wördemann spielt die Lotte, zugewandt, neugierig, klug, Jonny Hoff den Werther als einen, der sich vorsichtig in der Welt bewegt, wie unter Vorbehalt, und dann vom Verliebtsein aus den Socken gehauen wird. Sein wunderbarer Gegenpart: der vorlaut-zärtliche Willi (Florian Gerteis), ein bisschen mehr Lebemann, ein bisschen weniger Bedenkenträger.

WertherLive© Screenshot werther.live

Kennengelernt haben sich Lotte und Werther via eBay-Kleinanzeigen, um sich dann rasch in einem Geflecht aus Chats und Calls zu verzetteln. Zu verlieben. Zwischen herumgeschobenen Browserfenstern, Sprachnachrichten, Songs, Bildern. Perfekte Projektionsflächen, natürlich, denn die beiden laufen sich nie im Realraum über den Weg – einerseits wegen der Pandemie. Und andererseits wegen dem Dritten im Bunde, Albert, Lottes Freund seit Jahren. Da ist also die große Unmöglichkeit, die das beiderseitige Projektionsflächendasein wunderbar befeuern kann. Aber trotzdem taut Werther auf, trotzdem wittert er irgendwo das Leben, das er stets zu verpassen meinte.

Die Verbindung steht

In den 90 Minuten gelingt tatsächlich viel. Es gelingt, die Browserfenster zum Leben zu wecken, ins fieberhafte Mitlesen zu verstricken. Wer hat denn nun Werther wieder ein paar Zeilen geschrieben? Und warum? Es gelingt, die Metaebene dieser Kommunikationsformen anzutippen, das Flüchtige ebenso wie das Zärtliche, die absolute Unerreichbarkeit der oder des anderen bei höchster gefühlter Intimität. Um die Liebe und den Tod geht es nur sekundär – primär geht es darum, wie wir uns erreichen. Ob es zeitgemäß ist, sich "wegen einem Girl" umzubringen, das interessiert am Schluss nicht mehr – Werther macht es einfach. Und es ist durchaus schade, dass das kitschig-melodramatische Selbstmordende bleiben muss (das hier rasch und plötzlich herangaloppiert kommt). Aber natürlich möchte die Gruppe um Cosmea Spelleken letztlich nicht entzaubern, letztlich nicht über Gebühr be- oder hinterfragen, sie möchte mit ihren eigenen Mitteln Geschichte und Figuren zu (virtuellem) Leben erwecken. Das wirkt mitunter etwas brav, aber, wie gesagt: es gelingt. Auf die Nachahmer:innen dieser Theaterform werden wir nicht lange warten müssen.

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werther.live
nach Johann Wolfgang von Goethe
Buch & Regie: Cosmea Spelleken, Regieassistenz & Live-Schnitt: Lotta Schweikert.
Mit: Florian Gerteis, Jonny Hoff, Michael Kranz, Klara Wördemann.
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.werther-live.de