Den Hügel hinauf

von Karin E. Yeşilada

7. Mai 2021. 20.22 Uhr. "bettina“ und "ritchie#7" sind schon im Chat, weitere kommen dazu, "Armin und Claudia aus Speyer" sind gespannt. 20.30 Uhr, und los geht’s.
Der Fels, der da aus dem dunklen Bühnenraum aufragt, ist ein freundlicher. Er lässt sich anfassen, dient als Stütze zum Anlehnen, spendet der durstigen Schauspielerin über den Theaterabend hinweg Wasser aus einem Zapfhahn und lässt sich erklimmen – The Hill We Climb.

Traumwandlungen

Amanda Gormans bei der Inauguration des amerikanischen Präsidenten vorgetragene Vision, das Unsichtbare sichtbar zu machen, den Traum der gleichberechtigten Teilhabe zu verwirklichen, liegt über diesem Abend, den Julia Häusermann aka Frank eine Stunde lang rockt. Rock, der Felsen, der die verschiedenen Traumwandlungen immer wieder erdet, der als Fluchtpunkt fungiert für die Bewegungsabläufe, und als Zufluchtsort für den mitunter getriebenen Frank. Denn anders als im Titel suggeriert, weiß der nicht immer, wer er (oder sie) wirklich ist.

IchbinsFrank1 780 GinaBolleFluchtpunkt Felsen: Julia Häusermann auf der Bühne von Sabine Winkler © Gina Bolle

"Es gibt einen Körper ohne Ort“, so deutet sich Frank aus der Schutzzone seines Felsens selbst, singt diese Botschaft wie einen Schlager, bis er durch die eingesprochene Stimme von Kay West aufgestört wird: "How many You’s will you turn out, carry?" Julia Häusermann und ihre aus dem "Verbotene Liebe" Universum entliehene Kunstfigur Frank überlagern sich, driften auseinander, spalten sich auf. Wie das bekannte Züricher Theaters Hora dem Ensemblemitglied Julia Häusermann, so eröffnet diese nun ihrem alter ego Frank Möglichkeitsräume auf der Bühne.

Bereits zu Beginn werden die Schichtungen der Identitätssuche seziert: Da tritt Julia aka Frank hinter einem überlebensgroßen Leinwandbild, auf dem Frank als Julia porträtiert ist, hervor, reißt die Leinwand herunter und zieht sie anschließend als übergroße Schleppe hinter sich her (Bühne und Kostüm: Sabina Winkler) Frank herrscht königsgleich über das Spiel mit den Rollenzuschreibungen. Immer wieder werden im Verlauf des Abends Bilder von Frank auf den Bühnenhintergrund projiziert, die die jeweilige Rolle kommentieren oder auch konterkarieren. "Als Frau bin ich selbstbewusst und weiß, was ich will", wird Häusermann später im Nachgespräch erläutern. Für Frank aber sind die Rollenbilder variabel, auch heikel. In einem verzweifelten Moment des Stücks wirft er die Schleppe mit seinem Abbild in einen tiefen Schacht, der sich auf dem Bühnenboden auftut, und entledigt sich seiner Projektion.

Schwimmen lernen

Vor allem aber will Frank lieben, und das so romantisch wie möglich. Bereits zu Beginn streut er die blauen Kornblumen der Romantik auf den Bühnenboden, woraufhin ihm prompt die Geliebte erscheint, und zwar in Verkörperung einer Krinolinen-artigen Leuchtlampen-Konstruktion. Als sich dieser Leuchtrock zu Debussys Claire de Lune von der Decke niedersenkt, sind Publikum und Frank gleichermaßen verzaubert. Geheiratet wird dann zu Helene Fischers Von hier bis unendlich (Musikalische Leitung: Hans-Jakob Christian Mühletaler), und später wird Frank in Glitzerjacke zu Diskobeats in den Leuchtrock steigen, wird eins mit der Geliebten im ekstatischen Tanz zu Sias "I Wanna Swim". "Genießt es!", ruft er dem Publikum zu. Diese Liebe beschwingt, und unversehens wippt man/frau/divers vor dem Laptop mit. 

IchbinsFrank 780 GinaBolleDrehen, schwingen, tanzen: Julia Häusermann © Gina Bolle

Es ist ein sehr emotionales Theater, das rund um die von Häusermann mitentworfene Performance entsteht, und das durch die Besonderheit der Video-Inszenierung noch verstärkt wird: Die Kamera gleitet an Häusermanns Körper auf und ab, nimmt ihr mit den Beinen getretenes emotionales Beben in den Fokus, fängt ihren intensiven, ins Publikum gerichteten Blick ein, umkreist sie, tanzt mit ihr. Dadurch kommt einiges an Bewegung mit ins Spiel. Aber Häusermann bewegt sich auch, tanzt, dreht sich, schwingt, stampft. Mehrmals richtet die Kamera mit der Schauspielerin zusammen den Blick in den leeren Theatersaal: dann vermittelt sich etwas von der ungemeinen Anforderung, als Solokünstlerin vor abwesendem Publikum zu spielen.

Rosen fliegen durch die Luft

Unbeirrt aber wendet diese sich immer wieder an uns, die wir vor den Monitoren sitzen, "macht mit!", ruft sie, gestikuliert bei einer pantomimischen Dressurnummer zu "Free Willy" ins nicht-anwesende Publikum im Saal, und blickt immer wieder durch die Kamera auf uns. Am Ende verbeugt sie sich – hört sie unseren Applaus? Im Chat klatschen wir uns die Hände wund, sind berührt, dankbar, "das ist ja unglaublich schwierig ohne zuschauer, klatschklatschklaatsch und rosen fliegen durch die luft" schreibt "Graf Brigitta", und "Hochdeutsch#1" bringt es um 21:15 Uhr auf den Punkt: "Coole Sau, die Frau!" Dem ist nichts hinzuzufügen.

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Ich bin’s Frank
Ein Live-Stream-Experiment von und mit Julia Häusermann
Auf Schweizerdeutsch mit deutschen Untertiteln
Uraufführung
Autor*innen: Nele Jahnke, Julia Häusermann, Anna Fierz, Mehdi Moradpour, Regie: Nele Jahnke, Dramaturgie: Mehdi Moradpour, Theaterpädagogik: Anna Fierz, Begleitung: Lotti Happle, Bühnen- und Kostümbild: Sabina Winkler, Musikalische Leitung: Hans-Jakob Christian Mühletaler, Fotografie: Maxi Schmitz, Realisation Livestream: Filmproduktion Siegersbusch. 
Mit: Julia Häusermann 
Dauer: 45 Minuten, keine Pause

www.theaterheidelberg.de
ww1.muenchner-kammerspiele.de
hora.ch

I Wanna Swim