Das gibt Ärger

von Martin Thomas Pesl

4. Mai 2021. Wisst ihr noch damals, vor gut einem Jahr, als wir noch dachten, wir würden vielleicht nie wieder Live-Theater erleben? Es war tragisch, aber auch entspannend. Mittlerweile ist mit der Digitalität auch der Stress ins Home-Theater-Leben eingekehrt. "Homecoming", das – nach "Lockdown" – zweite einschlägige Online-Game von machina eX findet hauptsächlich auf Telegram statt, und lange, bevor es losgeht, hält einen der Chatbot auf Trab: Man solle bloß nicht zu spät kommen! Die Unterlagen, die nach Österreich nicht postalisch, nur digital verschickt werden konnten, seien unbedingt auszudrucken. Ob man einen gewissen Moritz Giffinger (Jan Jaroszek) schon hinzugefügt und ihm eine Nachricht geschrieben habe? Und es sei zwar nicht verpflichtend, den Prolog schon mal vorab zu spielen, aber besser wär’s.

Demgegenüber hebt dann die eigentliche Geschichte beim Gastspiel in der Digitaltheaterschiene des Heidelberger Stückemarktes erstaunlich behäbig an (was im konkreten Fall auch an eigenen technischen Problemen und drei rebellischen Teamkolleginnen liegen kann). In der Telegram-Gruppe "Abi 08 – The struggle is real", in die uns besagter Moritz alle eingeladen hat, erfahren wir, dass er sich seine Miete nicht mehr leisten kann und deshalb zurück zu Papa nach Spanzburg gezogen ist. Dort ist ihm beim Einkaufen unsere ehemalige Mitschülerin Rabea begegnet. Sie wirkte seltsam abweisend, er macht sich Sorgen.

Gegen das System

Nach und nach stellt sich heraus: Rabea (Anne Eigner) hat sich pandemiebedingt komplett zurückgezogen und bespielt nach dem Motto #lockerbleiben einen Videoblog. Dort berichtet sie entsetzt von den Leuten da draußen, die einander öffentlich umarmen und die anderthalb Meter Abstand nicht einhalten, und von einem europaweiten Test, dessen Bestehen mit dem Freibrief einhergehe, sich an keine Maßnahmen mehr halten zu müssen. Rabea möchte die Organisation auffliegen lassen, operiere sie doch mit laxem Datenschutz und zwielichtigen Methoden. Moritz will das aus nicht ganz einleuchtenden Gründen um jeden Preis verhindern. Über den Austausch per Telegram-Chat, das Studium einiger Webseiten und die Nutzung des übermittelten Spielmaterials löst das Team kleine Rätsel und hilft ihm bei seiner Mission. Dabei agiert meistens offensichtlich ein Bot, nur vereinzelt gehen Moritz und auch Rabea auf individuelle Meldungen ein.

1 homecoming c barbara lenartzAuf der Suche nach des Rätsels Lösung © Barbara Lenartz

Das Thema der Performance ist reizvoll, weil alle, wirklich alle etwas damit anfangen können. Es trifft den Nerv des großen Konflikts, der die Gesellschaft permanent umtreibt: Regeln gegen Ausnahmen, physisches gegen psychisches Wohl, Freiheit gegen Solidarität, die einen, die die Maßnahmen verhöhnen und unterlaufen, gegen die anderen, die sie unbedankt übererfüllen. In der "The struggle is real"-Gruppe wird allerdings deutlich, dass "Homecoming" im Herzen weniger sozialkritische Performance als einfach ein Rätselspiel ist, das starr darauf abzielt, zu einer – einzig möglichen – Lösung zu gelangen.

Ein Troll ist auch dabei

Wir brauchen dafür über zwei Stunden, die teilweise mit quälendem Warten zugebracht werden, bis endlich jemand genau das in den Chat schreibt, was Moritz braucht, um die Handlung vorantreiben zu können. Als es darum geht, Rabeas Testergebnisse zu hacken, legt sich ein Großteil der Gruppe zunächst quer, denn Moritz’ Beweggründe wirken irgendwie unredlich. Doch moralische Skrupel scheinen nicht vorgesehen zu sein. So sieht sich der Autor dieser Zeilen zwecks Rettung aus der spielerischen Sackgasse zur Komplizenschaft mit dem vermeintlich Bösen gezwungen, während es Vorwürfe der Mitspielerin K. hagelt, die in ihren Chatnachrichten wiederholt betont, sie könne das alles nicht verantworten und werde umgehend die Gruppe verlassen (tut dies aber nicht, sondern schiebt gehässige Kommentare).

Einerseits ist so etwas einfach individuelles Pech, vergleichbar vielleicht mit einem hustenden Sitznachbarn, der einem den Aufführungsgenuss trübt. Andererseits offenbart es auch gewisse Schwächen einer Spielekonzeption, die weniger interaktiv ist, als sie vorgibt zu sein. Wenn im Theater minutenlang nichts passiert, bleibt der Struggle oft trotzdem real. Zu Hause, im Lockdown, ist es fatal.

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Homecoming. Ein Live-Theater-Game für Zuhause
von machina eX
Regie: Yves Regenass, Text: Clara Ehrenwerth, Dramaturgie und Game-Design: Mathias Prinz, Technische Leitung: Lasse Marburg, Grafik, Szenenbild, Kostüm: Barbara Lenartz, Programmierung: Sebastian Arnd, Benedikt Kaffai, Webdesign/Mitarbeit Programmierung: Philip Steimel, Sounddesign: Jascha Dormann, Malu Peeters, Mitarbeit: Antonia Bitter, Produktionsleitung: Sina Kießling.
Mit: Anne Eigner, Jan Jaroszek.
Gastspielpremiere beim Heidelberger Stückemarkt am 4. Mai 2021
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.fft-duesseldorf.de
www.hebbel-am-ufer.de
www.hellerau.org
www.machinaex.com/