Propheten im Container

von Max Florian Kühlem

3. Mai 2021. Manchmal gibt es Ideen, die so gut sind, dass eigentlich kaum vorstellbar ist, dass ein Mensch sie zuerst hatte. Zum Beispiel diese: Die erste Staffel der TV-Sendung "Big Brother" in Deutschland als Anfang einer Entwicklung zu betrachten, die unsere Art, die Wirklichkeit zu sehen und in Kontakt zueinander zu treten, komplett verändert hat. Das ist die Grundiee von Boris Nikitins Nürnberger Inszenierung "Erste Staffel. Zwanzig Jahre großer Bruder", die nun beim Heidelberger Stückemarkt gastiert.

Dass die Aufführung Corona-bedingt als Live-Stream stattfinden muss, bringt eine zusätzliche Ebene in das sowieso schon erschreckend prophetisch erscheinende Geschehen. In einer Szene schauen zwei Darsteller*innen in den Badezimmer-Spiegel, hinter dem sich genauso im echten Big-Brother-Haus eine Kamera verbarg wie jetzt auf der Theaterbühne. Sie versuchen sich die Zähne zu putzen, was schwierig ist, weil sie Mund-Nase-Masken tragen. Einer sagt: "Das, was du da siehst, ist unsere Zukunft." Doch außer der pandemischen – was ist das für eine Zukunft, die Boris Nikitin seine Container-Insassen sehen lässt?

Staatstheater Nuernberg 2020 21 Schauspiel Erste Staffel 0674 c Konrad FerstererBig Brother is watching you © Konrad Fersterer

Wir erinnern uns: Es war das Jahr 2000, man bezahlte mit D-Mark, Gerhard Schröder amtierte als Kanzler, Mohammed Atta gründete eine Terrorzelle in Hamburg und, ein Jahr nach Start des Formats in den Niederlanden, zog auch in Deutschland eine Gruppe Alltagsmenschen (also keine Prominenten) in ein Container-Wohnhaus. Hier lebten sie komplett von der Außenwelt abgeschottet und wurden dabei 24 Stunden von mehr oder weniger versteckten Kameras gefilmt. Sie mussten Aufgaben erfüllen – wie über bestimmte Themen zu diskutieren – und jede Woche Mitbewohner*innen nominieren, die das Publikum vor den Fernsehschirmen dann rauswählen konnte. Als Anreiz dafür gab es etwa einen DVD-Player im Wert von 3000 Mark oder 100 Stunden freies Internet zu gewinnen.

Boris Nikitin und seine sechs Schauspieler*innen schauen zurück auf eine Welt auf der Schwelle. Damals sah man noch zu festgelegten Zeiten fern ohne zweiten Bildschirm in der Hand oder auf dem Schoß. Soziale Medien wie Facebook und Instagram gab es noch nicht, aber es ergibt durchaus Sinn, das Format "Big Brother" als geistigen Vorläufer zu sehen, als einen Ausdruck der offenbar immer drängender werdenden Sehnsucht der Menschen im neuen Jahrtausend nach Selbstdarstellung und breiter Anerkennung und Sichtbarkeit für banalste Alltagshandlungen. An einer Stelle der Inszenierung taucht ein Exkurs über die "neue Arbeit" auf, der nun immer mehr Menschen nachgehen und die darin besteht, "sich sichtbar zu machen, auf sich aufmerksam zu machen". Später läuft eine Darstellerin in aktueller Influencer-Manier durch den Container und nimmt ihre Follower mit auf eine Room-Tour.

Staatstheater Nuernberg 2020 21 Schauspiel Erste Staffel 9117 c Konrad FerstererSie werden belauscht © Konrad Fersterer

Eingeblendete Texte erklären zu Beginn des Stücks, dass die Gespräche der ersten Big-Brother-Staffel hier nachempfunden beziehungsweise rekonstruiert seien. Im nächsten Satz heißt es dann: "Sie sind komplett erfunden." In genau diesem Spektrum spielt sich ab, was mittlerweile jede*r als so genanntes "Reality"-TV kennt und akzeptiert. Wie stark gescripted auf Bildschirmen dargestellte Realitäten heute sind, erscheint höchstens noch diskussionswürdig, wenn es sich um öffentlich-rechtlich geförderte Dokumentationen handelt. Bei Boris Nikitin ist jedenfalls selten klar, wann das Ensemble eins zu eins Texte aus dem Big-Brother-Archiv spricht. Der Regisseur hat Unterhaltungen für ein Team aus sechs Insassen kompiliert, die in der Reality-Realität nur einen kurzen Zeitraum zusammen im Container verbracht hatten.

Etwas Toxisches

Die stärksten Momente erlebt die Inszenierung, wenn ihre angebliche Rekonstruktion am offensichtlich stärksten verfremdet ist: Dann erklärt eine Off-Stimme nach einer langen Nacht-Szene wie den Insassen in aufwühlenden Träumen das Unterbewusstsein in ihr Bewusstsein eingedrungen ist – "als hätten sie etwas Toxisches zu sich genommen" – und plötzlich fühlen sie sich, als könnten sie durch die Wirklichkeit hindurchschauen. Auf einmal erscheinen da Mark Zuckerberg und Donald Trump in alten Fernsehbildern auf einer Videowand auf der Bühne und im Kopf der Zuschauer*innen öffnet sich eine gerade Zeitlinie das narzisstische Zeitalter der Gegenwart.

Und noch eine (möglicherweise komplementäre) Entwicklung scheint schon in Big Brother angelegt oder sichtbar geworden: die zum (Rechts-)Populismus. Yascha Finn Nolting lässt seinen John in zwei Szenen – einmal beiläufig, einmal quälend lang und zugespitzt – unwidersprochen den Holocaust verharmlosen und wie ein Mantra Fragen wie diese stellen: "Überall wo der Deutsche hinkommt – muss er sich schuldig fühlen?"

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Erste Staffel. Zwanzig Jahre großer Bruder
von Boris Nikitin
Konzept, Text, Regie: Boris Nikitin
Mit: Julia Bartolome, Tjark Bernau, Yascha Finn Nolting, Sühelya Ünlü, Maximilian Pulst, Cem Lukas Yeginer.
Bühne: David Hohmann
Musik und Sounddesign Matthias Meppelink
Dramaturgie: Sascha Kölzow
Video: Manuela Trier, Georg Lendorff
Lichtdesign: Frank Laubenheimer
Live-Kamera: Manuela Trier, Alina Manukyan, Marc Stauch, Melanie Klos
Premiere am 3. Mai, Heidelberger Stückemarkt digital
Dauer: 2 Stunden, eine Pause

www.staatstheater-nuernberg.de/
www.theaterheidelberg.de/