Vom Leben, Sterben und Töten

von Maximilian Sippenauer

1. Mai 2021. Es ist eine der größten Mordserien der Nachkriegszeit. Dabei will Krankenpfleger Niels Högel doch nur den Tod besiegen. Dazu manipuliert er den Kreislauf von Intensivpatienten mit Antairrhythmika und forciert gezielt Herzstillstände. Gelingt ihm die anschließende Reanimation, ist der Pfleger der Held der Station. Misslingt sie, nun, dann ist eben wieder ein Bett frei. Sechs Jahre lang geht er auf zwei Intensivstationen dieser Praxis nach. Später wird er über 33 Morde gestehen, wobei mittlerweile in mindestens 51 weiteren Fällen die Indizien auf eine gezielte Tötung durch Herzmedikamente hinweisen.

Blutrotes Granulat

Der Mediziner und Theatermann Tuğsal Moğul holt in seinem Stück "Wir haben getan, was wir konnten" gleich drei solcher Verbrechen aus den deutschen Kliniken auf die Bühne und wagt dabei die nicht unproblematische Frage: Sind solche Taten singuläre Erscheinungen gestörter Individuen oder werden sie begünstigt durch ein Gesundheitssystem, dem sukzessive jegliche Form eines zwischenmenschlichen Regulativs wegrationalisiert wurde?

1 Wirhabengetan DeclairBedenke das Ende: Ariane Salzbrunn baut die Bühne für das ungeheuerliche Geschenen © Arno Declair

Die Bühne ist spartanisch gehalten. Mehrere Paare petrolgrüner, medizinischer Handschuhe hängen von der Decke. Vereinzelte Desinfektionsmittelspender. Hinter weißem Milchglas liegt ein Patient. Anonym und stumm. Mit blutrotem Granulat auf den Boden gestreut steht in lateinischen Lettern: respice finem. Bedenke das Ende! Ein alter Aphorismus, der zu klugem, weitsichtigem Handeln mahnt, und die Konsequenzen allen Tuns immer mitzubedenken. Nachdem die drei Schauspieler die Bühne betreten, wird es die erste Amtshandlung Christoph Jödes sein, diesen Sinnspruch von der Bühne zu fegen. Damit ist die Stoßrichtung klar, mit der in den folgenden 75 Minuten auf das deutsche Gesundheitssystem geschaut wird.

Psychologische Extrembelastung

In mehreren Monologen, unterbrochen von kleinen barockmusikalischen Einlagen, dokumentiert das Ensemble nun beispielhaft die Zustände auf deutschen Intensivstationen. "Eine Intensivstation ist wie ein Großflughafen", sagt Jöde einmal, in der Rolle eines Pflegers. "Länger als 24 Stunden soll hier keiner liegen." Die Hauptaufgabe des Personals? Kapazitäten freischaufeln. Ute Hannig räumt in der Rolle einer Klinikmanagerin mit dem Mythos auf, dass mit Altruismus heute Medizin zu machen sei. Ein Krankenhaus ist nur dann wirtschaftlich rentabel, wenn es die Behandlung von Krankheiten nach ökonomischen Gesichtspunkten selektiert. Die Hüft-OP, der Privatpatient, das sichert einem medizinischen Unternehmen die schwarze Null. Und natürlich wird die psychologische Extrembelastung für Ärzte und Pflegepersonal thematisiert. Früher hätten vor der Schichtübergabe alle miteinander gegessen, sich abgestimmt, Sorgen ausgetauscht und nicht mit nach Hause oder mit auf Station genommen. Dafür sei heute selbstredend keine Zeit mehr.

6 Wirhabengetan DeclairAllmacht und Allongeperücke: Ute Hanig  © Arno Declair

In diesem Kontext lässt Autor und Regisseur Tuğsal Moğul nun seine Darsteller in die Rolle der Verbrecher schlüpfen. Ein Ärztin erzählt, wie sie plötzlich beginnt, Alzheimer und Parkinsonpatienten totzuspritzen. Lebenszeitverkürzung. Dann der grausame Fall des "Krebsmittelpanschers" aus Bottrop. Ein Apotheker, der jahrelang tausende von Infusionen für Chemotherapien teilweise bis zur völligen Wirkungslosigkeit gestreckt und sich damit Millionen erschlichen hat. Die Täter schildern dabei ihre Fälle selbst und liefern so die Psychologisierung ihres Handelns gleich mit. Die Ärztin muss eine Trennung verarbeiten. Der Panscher kompensiert die herrische Autorität seiner Apotheker-Eltern. Nicht ohne Grund investiert er sein Vermögen, um sich eine große Rutsche in die Villa und einen Themenpark in den Vorgarten zu bauen. Und der mordende Pfleger, der genießt die Anerkennung der Ärzteschaft.

Virulentes Problem

Wenngleich Moğul sich stark an tatsächlichen Äußerungen der Täter orientiert, beginnt das Stück hier unter einer komischen Unentschiedenheit im Ton zu leiden. Was nicht zuletzt an der einzigen wirklichen inszenatorischen Idee des Stückes liegen könnte, den medizinischen Look der Darsteller*innen mit Versatzstücken aus dem Barock zu brechen. Die "lebenszeitverkürzende" Ärztin wackelt im roten Reifrock über die Bühne, der habgierige Apotheker sitzt im Rüschenhemdchen im opulenten Sessel, der mordende Pfleger trägt gleich dem für seine Allmachtsfantasien berühmten Sonnenkönig Allongeperücke. Einerseits unterstreichen diese Aspekte des Barocks sicherlich die narzisstischen Pathologien hinter diesen Verbrechen. Zeichnen weiter ein Gesundheitssystem, hinter dessen gepudert weißer Fassade es fault und stinkt. Andererseits schwächt es den Versuch, die Täter nicht nur als Schwerkriminelle, sondern auch als Menschen zu zeichnen. Ihre Psychogramme verkommen durch den Ulk der Maskerade zu küchenpsychologischen Analysen. Das schützt vor einer Täter-Opfer-Umkehr, führt aber auch zu einer seltsam lakonischen Ironisierung der Fallstudien. Das unterminiert letztlich Moğuls Hauptthese des Stückes, nämlich, diese Verbrechen nicht nur als schreckliche Einzelfälle, sondern als zumindest begünstigt durch ein habgieriges und fast bis zur Unmenschlichkeit optimiertes Gesundheitswesen, zu interpretieren.

3 Wirhabengetan DeclairDer Pfleger als Herr über Leben und Tod: Christoph Jöde © Arno Declair

"Wir haben getan, was wir konnten" will mit seiner Generalkritik am deutschen Gesundheitswesen am Ende ein bisschen zu viel. Trotzdem zeugen nicht zuletzt die Dauerbelastung auf den Intensivstationen während der Corona-Pandemie oder die aktuelle Tötungsserie von behinderten Patienten in Potsdam wie virulent dieses Problem ist.

Kraft des Unmittelbaren

Am stärksten ist das Stück aber vor allem dann, wenn der Mediziner Moğul die analytische Ebene verlässt und ganz auf die Kraft des unmittelbaren Zeugnisses setzt. So ist der Höhepunkt des Stückes, als Yorck Dippe in einem fulminanten Monolog einen ganz normalen 24-Stunden-Dienst eines Anästhesisten schildert. 24 Stunden ohne echte Pause von einer Extremsituation in die nächste: Autounfall eines Jugendlichen, Hirntod, trotzdem am Leben halten. Organspende mit Eltern diskutieren. Ja, nein? Nein. Brötchen. Fortbildung. OP-Betäubungen. Dann doch Organtransplantation. Also Hirntod erklären. Hirntod bestätigen lassen. Mitternacht: Organentnahme. Dann Transplantation an Leber-Zirrhotiker. Der wird doch einfach weitersaufen! Dann irgendwann kurz vor Schicht Ende zum ersten Mal kurz die Augen schließen. "Wir haben getan, was wir konnten."

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Wir haben getan, was wir konnten
von Tuğsal Moğul
Regie: Tuğsal Moğul, Bühne und Kostüme: Ariane Salzbrunn, Musikalische Leitung: Tobias Schwencke, Choreografie: Catharina Lühr, Dramaturgie: Anika Steinhoff.
Mit: Yorck Dippe, Ute Hannig, Christoph Jöde und John Eckhardt (Kontrabass), Tobias Schwencke (Cembalo), Swantje Tessmann (Geige/Bratsche).
Dauer: ca. 75 Minuten

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