Neue Bühnen, neue Normalität

von Sophie Diesselhorst

April 2021. Von wegen, die Theater spielen nicht. Mehr als ein Jahr dauern Pandemie und unterbrochener Lockdown jetzt schon an, und im Theater hat die Krise nicht nur Stillstand im Premierenstau gebracht, sondern auch Digital-Innovation: Wer hätte gedacht, dass große Premieren in großen Stadttheatern irgendwann mal live gestreamt würden, eine Praxis, die sicherlich auch jenseits des pandemischen Lockdowns ein dankbares Publikum finden kann.

Die innovativsten Experimente und Erschließungen neuer Online-Bühnen sind allerdings aus der Freien Szene gekommen: von Gruppen, die schon lange mit digitalen Technologien und Dramaturgien experimentieren wie machina eX oder Swoosh Lieu, aber auch von ganz neuen Künstler*innen und Künstler*innen-Allianzen wie der Gruppe punktlive, die mit ihrem preisgekrönten Debüt "werther.live" einen Senkrechtstart hingelegt hat. Schon insofern sind die drei Stücke, die in der neuen Digitaltheater-Sektion beim Heidelberger Stückemarkt gezeigt werden, repräsentativ für die Entwicklung des Netztheater-Geschehens des letzten Jahres.

Auf dem Weg vom Ebay- über den WhatsApp-Chat ins Zoomfenster

Alle drei, die 35minütige digitale Lecture Performance "A Room of Our Own" von Swoosh Lieu, das Telegram-Spiel "Homecoming" von machina eX und die Social-Media-Performance "werther.live" holen uns da ab, wo wir gerade zuhause sitzen, hoffen und bangen und dringend gute Unterhaltung und Gedankenfutter brauchen. Sie tun das, indem sie auf unserer geteilten neuen Realität der fast ausschließlich online stattfindenden Kommunikation basieren – und stark machen, dass Begegnung hier trotzdem möglich ist, ja dass sogar ein Funke überspringen kann.

WertherLiveWerther.Live: Der Funke zwischen Lotte und Werther springt über im Chat  Bild: Screnshot

In werther.live entfaltet sich das Geschehen von Goethes "Leiden des Jungen Werthers" auf Werthers Bildschirm. Hier baut der Student auf Sinnsuche im Urlaubssemester Collagen für sein Instagram-Account, hier chattet er auf WhatsApp und Facebook, und hier sitzt er auf Zoom Lotte gegenüber und streichelt ihr Gesicht beim ersten romantischen Date mit seinem Cursor. Als physische Gestalt existiert Werther nur im Ausschnitt des Zoom Fensters, wo er in seinem Dachzimmer vorm Computer abwechselnd Cornflakes isst und Wein trinkt.

Dabei ist Werthers Aufmerksamkeit in den einzelnen Strängen der Geschichte den üblichen Schwankungen unterworfen, die wir alle kennen aus unserer Online-Rezeption. Selbst als er mit seinem Crush Lotte spricht, checkt er nebenbei noch andere Nachrichten. Der Bildschirm als Bühne lässt uns als Publikum sehr nah heranrücken an Werthers Wahrnehmung. Sie ist so fragmentiert wie seine Collagen, in denen er surrealistisch anmutende Bildwelten kreiert – auf der Suche nach neuen Bildern lernt er bei der Bestellung eines Bildbands "Historische Feuerwaffen" übrigens auch Lotte kennen, die für ihren Freund Albert auf Ebay aussortierte Bücher vertickt.

Das ist Werktreue!

Auf dem Weg vom Ebay- über den WhatsApp-Chat ins Zoomfenster springt der Funke über zwischen Lotte und Werther. Auch Werther und Willys Beziehung ist so (b)romantisch, dass es einem als Zuschauerin manchmal beinahe ein bisschen peinlich wird, wenn sie glucksend halbwüchsige Klischeegespräche über ihre Fraueneroberungen führen. Aber das ist Werktreue! "werther.live"C folgt Goethes Sturm-und-Drang-Story getreulich bis ins bittere Ende, und den Goethe-Bezug schmückt Regisseurin Cosmea Spelleken noch liebevoll bis ins Detail aus, indem sie Werthers WhatsApp-Kontaktliste mit Figuren wie "Iphigenie von T.", "Leonore" oder "Graf von B." bevölkert.

Werther wird in heutigen Theaterinszenierungen des Stoffs gerne als Stalker dargestellt, und er ist auch einer – so wie wir das online alle sind. So verfolgen wir mit voyeuristischem Blick alles, was Werther tippt und klickt, und schauen mit ihm zusammen erst Lottes und dann Alberts Insta-Profil einmal durch – nach dem Motto: Du bist, was Du postest. Jede der Figuren hat ein eigenes, kunstvoll bestücktes Instagram Profil, denn sie sind junge Menschen von heute, die übrigens gar keinen pandemischen Lockdown brauchen, um rege Online-Bekanntschaften zu pflegen – Urlaubs-Restaurant-Fotos von Willy aus Frankreich weisen darauf hin, dass diese Geschichte nicht unbedingt zu Zeiten von Corona spielt.

Angeschlagene Menschen im Lockdown

Mit diesen Instagram-Accounts – Streber Albert hat sogar zusätzlich noch einen Blog – hinterlässt die Performance Spuren in der Online-Realität, zugleich konstituieren sie eine Art digitales Bühnenbild, dem man viele Informationen über die Figuren und den Lauf der Story entnehmen kann. Auch "Homecoming" von machina eX hat ein solches digitales Bühnenbild; so ist der Blog von Rabea Dintner, eine der Hauptpersonen des Telegram-Spiels, mit etlichen Videos bestückt, die Rabeas Abdriften in den Lockdown-Extremismus belegen. Während des Spiels ist gar nicht genug Zeit sie alle durchzugucken.

1 homecoming c barbara lenartzHomecoming: Selbstinszenierung fürs Internet im Kinderzimmer © Barbara Lenartz

In der Telegram-Gruppe gibt es drei Spieler*innen und Spiel-Leiter Moritz Giffinger. Die Pandemie hat ihn in Geldnot gebracht, er musste in unser Herkunftsnest zurückziehen zu seinen Eltern. Neulich hat er dort beim Einkaufen unsere alte Schulfreundin Rabea getroffen – die ihn eiskalt ignoriert. Untypisch, finden wir alle, schließlich war Rabea früher doch eine der Geselligsten von uns. Und in ihrem Youtube-Blog, wo sie sich als "Lockdown Lifestyle Expertin" vorstellt, ist sie immernoch sehr redselig. Schnell finden wir uns in der uns zugeschriebenen Rolle als nette alte Schulfreunde ein, an die Moritz appelliert als Vertreter*innen der Vernunft – als wünschenswerte Norm. Moritz ist seinerseits beinahe zu normal, seine Antworten, die von einem von machina eX programmierten Bot kommen, sind sehr standardisiert, auf Nuancen im Gespräch kann Moritz nicht eingehen. Lebendig wird er deshalb vor allem in den von Jan Jaroszek gesprochenen Sprachnachrichten.

"Achtet auf  Euch!"

"Lockdown" nimmt schnell Tempo auf und schweißt die Gruppe zusammen, indem sie sich detektivisch betätigen muss – als Hacker*innen eines nicht besonders gut gesicherten EU-Programms namens "Euravoid", das eine Bevölkerungsumfrage durchführt, um psychisch besonders vom Lockdown angeschlagenen Menschen gezielt Restriktions-Lockerungen anzubieten. Klingt kompliziert? Ist es auch. Die Komplexität vor allem der Rabea-Figur ist allerdings gerade die Stärke dieses Spiels, das keine gedanklichen Kurzschlüsse zulässt zu unserer gesellschaftlichen Situation in Pandemie und Lockdown.

Rabea, die Lockdown-Extremistin, die in ihrem Videoblog erst Rezept-Empfehlungen, dann Einkaufslisten für den Hamstereinkauf teilt, spitzt die an sich vernünftige Position der vorsichtigen Mitbürgerin zu. Mit ihrem Dogmatismus überfordert sie sich aber bald und bricht den Kontakt zur Außenwelt ab, um sich damit nicht zu konfrontieren. "Achtet auf euch, es macht sonst niemand" sagt Rabea einmal in einem "Self-Care"-Monolog, und darin wollen wir ihr dann doch widersprechen.

Suchend im leeren Theaterraum

Was von "Homecoming" vor allem in der Erinnerung bleibt, ist Rabeas liebevoll gestaltete und von Anne Eigner sehr überzeugend performte Selbstinszenierung als Influencerin – gerade weil am Schluss dann doch auch Raum ist dafür, dass diese Selbstinszenierung aufgebrochen wird. Längst müssen Influencer*innen wie Rabea nicht mehr die bruchlose, unrealistische perfekte Oberfläche bieten – da ist die Digital-Öffentlichkeit schon viel weiter. Stattdessen gilt's die Brüche herzuzeigen und sich selbstbewusst im Umgang damit zu zeigen. Natürlich trotzdem stets gut ausgeleuchtet!

Das Licht spielt auch in Swoosh Lieus kunstvollem "A Room of Our Own" eine ganz entscheidende Rolle. Gleich zu Anfang hat es den ersten Auftritt, als ein Scheinwerfer suchend durch einen leeren Theaterraum fährt. Dieser Raum wird über die dichten 35 Minuten hinweg, die die "Vorstellung für Browserin und variables Publikum" dauert, immer wieder vermessen, durch Scheinwerfer, aber auch durch den Sound, der von verschiedenen Seiten kommt – Swoosh Lieu fordern einen auf, das Video mit Kopfhörern anzuschauen, was das Raumgefühl noch deutlich immersiver macht.

Geister der Vergessenen

Natürlich ist dieser Raum auch ein metaphorischer, nämlich der "Room of one's own", den Virginia Woolf in ihrer berühmten Rede als Grundbedingung fürs kreative Schaffen forderte für alle Schriftstellerinnen. Auch bei Swoosh Lieu wird eine Rede gehalten, aber die Rednerin ist hier ein Gespenst, das körperlos durch den Theaterraum schwebt, sich vorm Mikro positioniert und in einen leeren Zuschauer*innenraum hinein spricht. Diese Vorstellung muss von uns allen zusammen mit Leben gefüllt werden. Seit Jahrhunderten geistert das Gespenst durch die Hochkultur, sagt es: "Dabei begegne ich etlichen namenlosen und unsichtbaren Frauen und Queers, die immer nur neben oder hinter der Bühne gestanden haben. Oder gar nicht da sind, weil sie mit den Kindern spazieren gehen, das Geschirr abwaschen oder ein I-Pad fürs Homeschooling suchen. Auch ohne Abstand würden die Geister aller Vergessenen, aller Nicht-Gehörten und Über-Sehenen nicht in diesen Raum passen."

a room of our own brilly 3A Room Of Our Own: Utopische Momente im Stadtraum, wo digitale und analoge Bilder verschmelzen © Swoosh Lieu

Und all diese Geister werden daraufhin – zumindest symbolisch – von Swoosh Lieu auch in den Öffentlichen Raum transportiert, wenn die Performer*innen den Willy-Brandt-Platz in Frankfurt in Judith-Shakespeare-Platz umbenennen und auch sonst im Stadtraum die Repräsentation umverteilen: Per Greenscreen lassen sie zum Beispiel in den Vitrinen des Schauspiel Frankfurt statt der Stückankündigungen, die normalerweise dort hängen, das weltweit viral gegangene Video der Frauen-Protesaktion von Las Tesis 2019 in Chile laufen: "Un violador en tu camino". Und steigen für den utopischen Ausblick schließlich – "Aus den Greenscreens machen wir uns eine neue Haut" – ganz ein in eine Kunstwelt, ein Game, in dem frau als Avatar heteronormativen Kategorien trotzden muss. Belohnt wird der "successful glitch" mit einem kleinen Feuerwerk, in der letzten Kameraperspektive von oben sehen wir lauter pandemiegerecht in kleinen Grüppchen Feiernde.

Die Chance der pandemischen Krise

All das wird von einem dynamischen Elektro-Soundtrack angetrieben und zusammengehalten. Und wenn es am Ende optimistisch heißt „Wir werden wieder tanzen“ und die Diskokugel sich dreht, sind auch wir, das Remote-Publikum, dazu eingeladen mitzufeiern, und zwar unsere Wahrnehmung, die wir wie die Scheinwerfer im leeren Theater auf die Diskokugel aufeinander richten und die tollsten Effekte erzeugen können: "Wir sehen multipel. Wir hören polyphon. WIR das sind die vielfältigen Bestandteile einer sich kontinuierlich verändernden Narration."

“We don't want to go back to normal because normal was the problem”, das ist noch ein Satz aus dem so positionsstarken wie assoziationslustigen Text, der dem Film zugrunde liegt. In “A Room of Our Own” steckt die Hoffnung auf einen Neuanfang, die Chance der pandemischen Welt-Krise, viel beschworen, von vielen bereits als Enttäuschung abgebucht.

Aber im Theater hat sich das Versprechen doch zumindest teilweise eingelöst: So zugänglich wie im letzten Jahr war Hochkultur noch nie. Inszenierungen im Stream, Künstler*innen in Live-Chats und Zoomgesprächen: Auch haben sich viele neue Kontaktmöglichkeiten aufgetan zwischen Theaterschaffenden und ihrem Publikum. Neue Online-Bühnen wurden gebaut, neue Künstler*innen wie punktlive haben sie betreten, andere – wie machina eX und Swoosh Lieu – haben sich und ihr Schaffen weiterentwickelt. Auf dass diese Räume uns allen erhalten bleiben, indem Strukturen erhalten und geschaffen werden – in dieser neuen Normalität.

 

Termine
Gastspiel Homecoming, 4.5., 17 Uhr via Theater Heidelberg + 4.5., 20 Uhr via Theater Heidelberg
Gastspiel A Room of Our Own, 4.5., 20:30 Uhr auf dringeblieben.de
Gastspiel Werther-Live, 9. 5., 18 Uhr auf dringeblieben.de

 

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werther.live
nach Johann Wolfgang von Goethe
Buch & Regie: Cosmea Spelleken, Regieassistenz & Live-Schnitt: Lotta Schweikert.
Mit: Florian Gerteis, Jonny Hoff, Michael Kranz, Klara Wördemann.

www.werther-live.de

 

Homecoming. Ein Live-Theater-Game für Zuhause
von machina eX
Regie: Yves Regenass, Text: Clara Ehrenwerth, Dramaturgie und Game-Design: Mathias Prinz, Technische Leitung: Lasse Marburg, Grafik, Szenenbild, Kostüm: Barbara Lenartz, Programmierung: Sebastian Arnd, Benedikt Kaffai, Web Design/Mitarbeit Programmierung: Philip Steimel, Sound Design: Jascha Dormann, Malu Peters, Mitarbeit: Antonia Bitter, Produktionsleitung: Sina Kießling.
Mit: Anne Eigner, Jan Jaroszek

www.fft-duesseldorf.de
www.hebbel-am-ufer.de
www.hellerau.org
https://www.machinaex.com

 

A Room of Our Own
von Swoosh Lieu
Text: Rosa Wernecke und Katharina Pelosi, unter Verwendung von Zitaten von Virginia Woolf, Donna Haraway, Legacy Russell, Ursula K. Le Guin, Paul B. Preciado, Margarita Tsomou, LECKEN, VNS Matrix, Antonia Baehr
Konzept, Ausstattung, Licht: Johanna Castell; Konzept, Komposition, Sounddesign: Katharina Pelosi; Konzept, Schnitt, Kamera Labor: Rosa Wernecke; Kamera: Marie Zahir; Animation: Barbara Lanzarote, Produktionsleitung: Johanna Castell.
Mit: Johanna Castell, Stine Hertel, Katharina Olt, Verena Katz, Katharina Pelosi, Jones Seitz, Rosa Wernecke, Marie Zahir, Jamila Adler, Johannes Aue, Elena Barta, BeyondTech featuring nichtichx2, Johanna Castell, Ben Hartmann, Ranyana Herzog, Heinrich Horwitz, Henri Jakobs, Anna Kellermann, Mahtab Khedri, Daniel Loick, Katharina Pelosi, Carola Schaal, Emel Schattner, Marie Simms, Joel Vogel, Laura Villalba y Weinberg, Rosa Wernecke. Sprecherin: Birte Schnöink.

www.swooshlieu.com
www.mousonturm.de